Ukrainischer Skandalfilm „The Tribe“: Die Körper kommunizieren

Mechanische Sexszenen, abrupte Gewalt: Der preisgekrönte Film „The Tribe“ findet verstörende Bilder für Gewalt unter Gehörlosen.

Menschen laufen an einer großen Leinwand vorbei, die auf das Cannes-Festival hinweist.

„The Tribe“ hatte Premiere beim Filmfestival in Cannes im vergangenen Jahr. Foto: reuters

Kontroversen sind eine stabile Währung im Arthouse-Sektor. Bei Festivals gehört der kalkulierte Skandal längst zur Folklore, Filmregisseure wie Bruno Dumont haben mit Entwürfen zu den Topoi Sex, Gewalt und Sozial-Miserabilismus ihre Karrieren begründet. Selbst Hollywood-Provokateur Vincent Gallo ließ es sich in „Brown Bunny“ nicht nehmen, mit einem Blowjob zu schocken. Werthaltig sind solche Kontroversen nur noch, wenn sie sich um radikale Formen drehen, die auch politische Haltung erkennen lassen.

Miroslav Slaboshpitskys „The Tribe“ eilt seit seiner Premiere in Cannes (2014), wo er dreifach ausgezeichnet wurde, sein transgressiver Ruf voraus. Radikal ist der ukrainische Film schon deshalb, weil er in Gebärdensprache gedreht wurde. Es gibt keine Untertitel, die Tonspur beschränkt sich auf isolierte Geräusche wie das Klappern von Schuhsohlen, zwischenmenschliche Berührungen, mal grob, mal zärtlich, oder den Schlag mit einem Holzhammer (auf einen Kopf), die in der kontrollierten Stille des Films stark amplifizierte Wirkung entfalten.

Ein Film, der ohne Worte auskommen muss und trotzdem nicht sprachlos ist, denn es sind die Körper, die in „The Tribe“ kommunizieren. Für Gesprächsstoff sorgten vor allem die mechanischen Sexszenen sowie die abrupte Gewalt, die in dem restriktiven Milieu eines Internats für Gehörlose ein Klima permanenten Terrors, vom Bullying bis zum handgreiflichen Initiationsritual, schafft.

Der Verzicht auf Untertitel wirkt sich auch formal aus. Und hier bewegt sich „The Tribe“, wenn auch so konsequent wie kein anderer Film der jüngsten Zeit, in den Mustern einer inzwischen konfektionierten Weltkino-Ästhetik, die das Publikum heutzutage allerdings nur noch sehr selektiv (etwa in den Filmen der Dardenne-Brüder oder der rumänischen New Wave) außerhalb der internationalen Festivals zu sehen bekommt.

Hochgradig befremdlich

Da die Gebärdensprache in „The Tribe“ das einzige Mittel der Kommunikation darstellt, verzichtet Kameramann Valentyn Vasyanovych auf Close-ups, um den physischen Ausdruck in seinem ganzen raumgreifenden Habitus einzufangen. So dominieren statische Einstellungen in der Totalen beziehungsweise Halbtotalen – artifizielle Kadrierungen, die von dynamischen Handkamera-Plansequenzen kontrastiert werden.

Diese vertrauten Stilmittel des arrivierten Arthouse-Kinos erschließen jedoch ein Milieu, das auf den Betrachter hochgradig befremdlich wirkt. Der anfänglich schüchterne Neuankömmling Sergei wird von einer Gruppe älterer Schüler, dem „Stamm“, aufgenommen, die an der Schule eine kriminelle Hierarchie etabliert haben. Zwei Klassenkameradinnen werden nachts auf den Trucker-Strich geschickt, der Werklehrer versorgt die Jugendbande mit Hehlerware, nächtliche Überfälle, stumm mit äußerster Brutalität ausgeführt, sichern das Auskommen.

„The Tribe“. Regie: Myroslav Slaboshpitsky. Mit Grygoriy Fesenko, Yana Novikova u. a. Ukraine/Niederlande 2014, 132 Min.

Die kriminellen Energien sind so wenig zielgerichtet und die Informationen so bruchstückhaft, dass sich die rudimentäre Handlung von „The Tribe“ zwangsläufig als harsche Allegorie entfaltet. Im Geografieunterricht referiert die Lehrerin kurz über die Ukraine, obwohl Politik beziehungsweise Staatskunde im hermetischen Milieu der Schule keine Rolle spielt.

Dennoch entsteht der Eindruck, dass „The Tribe“ als eine Art Gegenerzählung zu Andrej Swjaginzews Putin-Kritik „Leviathan“ fungiert, der im vergangenen Jahr ebenfalls im Wettbewerb von Cannes lief (und mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet wurde). Beide Filme handeln von korrupten Systemen, die nur noch von inneren Abhängigkeiten zusammengehalten werden. Radikal ist dies im Fall von „The Tribe“ insofern, als dass er die soziale Ohnmacht des Individuums, abgeschoben in eine staatliche Verwahranstalt, in die Erfahrung einer Gruppendynamik (des Stammes!) überführt.

Es ist weniger der Mangel an einer inhärenten Moral oder die beiläufige Gewalt, als Ausdruck von ausbeuterischen Machtverhältnissen, die „The Tribe“ zu einem so verstörend unapologetischen Film machen. Sondern die Konsequenz, mit der Slaboshpitsky den Zuschauern die Binnenperspektive seiner Figuren aufzwingt.

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