Über das Alter als Privileg: Triumph der Alten

Die Senioren von heute haben die Zeit ihres Lebens. Zumindest solange sie nicht arm sind, denn dann sind sie schon tot.

Ein Gebiss neben einem Wasserglas

Es geht auch um den medizinischen Fortschritt. Heute gibt es Gebisse Foto: Imago/Westend61

Das Kühlschranktheorem besagt, dass in einer Wohnung die Größe des Kühlschranks mit dem Alter der Bewohner zunimmt – nicht mit deren Anzahl. Ebenso verhält es sich mit der Wohnfläche: Die Alten haben mehr Platz als die Jungen, auch wenn die verpartnert sind und Kinder haben.

Schenkt man solchen Details Aufmerksamkeit, so darf man zumindest vermuten, dass dem Alter heute etwas in der Geschichte der Menschheit Unerhörtes widerfährt: Durch Jahrtausende wurde es erlitten und herabgewürdigt. Das Alter war die Lebenszeit, in der die menschlichen Zweibeiner die Zähne verlieren, die Augen und Ohren in ihrer Funktion nachlassen, in der die Menschen ihre Beweglichkeit und sexuelle Potenz einbüßen, inkontinent und dement werden. Eine Zeit des Elends, in der christliche Schwestern noch im Armenhaus die alte Witwe zwangen, ihre Suppe fern vom Esstisch zu schlürfen.

Diese Epoche scheint heute vollkommen überwunden. Nicht dass alle Alten auf einmal ihre Zähne, ihre Sinne und ihr Gedächtnis behielten; aber heute gibt es Gebisse, Operationen gegen Grauen Star und für den Rest Viagra, inzwischen auch für die Frau. Es erstaunt dabei, ein wie großer Teil des medizinischen Fortschritts darauf ausgerichtet ist, die Leiden des Alters aufzuheben – ein größerer jedenfalls als für die Tragödien, die die Jungen treffen.

Diese Tatsache ist zugleich Grund und Folge der neuen privilegierten Epoche des Alters: Die Medizin beschäftigt sich so ausführlich mit den Problemen der Senioren, weil diese der einflussreichste und mächtigste Teil unserer Gesellschaft geworden sind. Aber er ist dazu eben auch dank der Fortschritte der Medizin geworden, die den Status des Altseins in die Länge gezogen und aus den Rentnern die größte Bevölkerungsgruppe gemacht haben.

Die Ungleichheit zwischen den Menschen

Früher dauerte das Alter, als Zeit, sich mit dem Tod vertraut zu machen, wenige Jahre – statistisch gesehen, Ausnahmen gab es natürlich immer. Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war der Tod dabei eine ziemlich demokratische Angelegenheit, in dem Sinne, dass sich niemand privilegiert fühlen konnte. Die Hoffnung, möglichst lange am Leben zu bleiben, gründete sich nicht auf Reichtum – im Gegenteil: Menschen aus bescheidenen Verhältnissen hatten eher die Chance auf eine längere Lebenszeit, weil sie einen maßvollen Lebensstil pflegten, während die medizinische Situation für alle gleich schlecht war: Katastrophale Hygiene und Machtlosigkeit der zeitgenössischen Medizin den ernsten Krankheiten gegenüber.

Man muss nur nachlesen, wie lange die Fürsten von Ferrara oder Mantua lebten, und dies mit der Spanne vergleichen, welche die von ihnen beschäftigten Künstler der Renaissance ausfüllten, um zu sehen, wie viel früher die Adligen ihren Lastern Tribut zollen mussten.

Im Weiteren aber folgte die Medizin dem Rousseau’schen Muster der Verschlimmbesserung: Peu à peu hat sie die Ungleichheit zwischen den Menschen verstärkt, mit dem Ergebnis, dass heute die Reichen und Mächtigen im Durchschnitt sehr viel länger leben als die Notleidenden und Unterdrückten.

In einem Artikel der Zeitschrift The Atlantic vom April vergangenen Jahres wird aufgeschlüsselt, was das für die Lebenserwartung von heute 55-jährigen US-Amerikanern konkret bedeutet. Die reichsten männlichen 10 Prozent dieser Altersgruppe dürfen statistisch auf weitere 34,9 Jahre hoffen; die ärmsten 10 Prozent nur auf 24,2 Jahre.

Die Reichen haben 3,3 Jahre mehr

Wenn die Reichsten ihre 89 Jahre und 11 Monate erreicht haben, sind die Ärmsten also schon 10 Jahre und 8 Monate tot. Bei den Frauen sind die Daten 90 Jahre und 4 Monate für die oberen 10 Prozent gegen 80 Jahre und 10 Monate.

Bedrückender wird es, wenn man die aufgeführten Daten für die 1940 Geborenen mit denen von 1920 Geborenen vergleicht. Für die oberen 10 Prozent (männlich) hat sich das Leben um 5,9 Jahre verlängert, für die ärmsten 10 Prozent nur um 1,8 Jahre. Bei den Frauen ist die Kluft noch größer: Die Reichen haben 3,3 Jahre mehr im Vergleich zu den 1920 Geborenen, bei den Ärmsten hingegen hat sich die Lebenserwartung sogar verringert – der mathematische Beweis für die zunehmende Ungleichheit im Angesicht des Todes. Für Deutschland hat das Robert-Koch-Institut kürzlich Zahlen vorgelegt. Demnach leben Frauen aus der untersten sozialen Schicht 8,4 Jahre kürzer als die aus der obersten. Bei Männern beträgt der Unterschied sogar 10,8 Jahre.

Das Alter wird also nicht nur zur Hauptlebenszeit, sondern auch zu derjenigen Epoche der menschlichen Existenz, in der die Reichen ein gewaltiges Übergewicht erreicht haben. Die verlässlichste Gegenprobe für diese Daten liefern die Vereinigten Staaten, wo der Kapitalismus – oder die Marktwirtschaft, wenn man es so lieber hat – von Anfang an freiere Hand hatte und wo die Effekte deswegen deutlicher hervortreten. Die einzige Gruppe in den USA, die in den Genuss eines qualitativ hochwertigen und kostenlosen Gesundheitssystems kommt, sind die über 65-Jährigen: Und zwar dank Präsident Lyndon B. Johnson und seinem 1966 eingeführten Medicare.

2010 profitierten davon 40 Millionen Personen, für die 182,7 Milliarden Dollar Krankenhauskosten aufgewendet wurden – 47,2 Prozent all solcher Ausgaben in den USA. Die Tea Party entstand eben aus der Angst der Alten, durch die Gesundheitsreform Barack Obamas dieser Wohltaten ganz oder teilweise beraubt zu werden. Obama hatte allerdings nicht den Mut, Medicare einfach auf alle Amerikaner auszuweiten. Stattdessen brachte er ein abstruses Gesetz von 1.900 Seiten auf den Weg, dessen Kompliziertheit eben dem Willen geschuldet ist, die Privilegien der Alten nicht anzutasten.

Die Alten wählen mehr

Aber das nur nebenbei. Jedenfalls sind wir hier bei den perversen Folgen des demokratischen Prozesses angekommen. Die je nach Alter unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung setzt eine Dynamik in Gang, die sich fortlaufend selbst verstärkt. Census, das statistische Bundesamt der Vereinigten Staaten, liefert dazu in seiner Studie „Young-Adult Voting. An Analysis of Presidential Elections 1964–2012“ erstaunliche Daten.

Seit 1964 hat die Wahlenthaltung in allen Altersklassen zugenommen. In diesem Jahr wählten 75 Prozent der 45- bis 64-Jährigen, gefolgt von 69 Prozent der 24- bis 44-Jährigen. Die über 65-Jährigen mussten sich mit dem dritten Platz zufrieden geben (66,2 Prozent), während die Jungen, die 18- bis 24-Jährigen am schlechtesten abschnitten (50,9 Prozent).

48 Jahre später hat sich das Bild gewandelt. Die Jungen wählen mit nur noch 38 Prozent immer noch am wenigsten, die Spitze aber haben die über 65-Jährigen ergattert mit einer Wahlbeteiligung von 69,7 Prozent. Dabei gilt es zu beachten, dass die über 65-Jährigen 1964 nur knapp ein Zehntel der Bevölkerung ausmachten, heute dagegen 13,4 Prozent; dies trotz der sehr starken Migration in die USA – für Europa und hier vor allem für Italien sind die Daten für die alternde Bevölkerung deutlich dramatischer.

Die Alten also entscheiden heute die Wahlen, ihnen kann nichts verweigert werden: Klar, dass nicht mal die härtesten Neoliberalen und Reaganomics-Anhänger es gewagt haben, Medicare anzutasten. Je mehr die Alten zählen, desto inniger werden sie von der Politik gehätschelt; und je mehr man sich ihnen zuwendet, desto größer wird ihr demografisches Gewicht und das bei Wahlen.

Die Jungen werden verlieren

In Europa ist die Tendenz die gleiche. Eine Erhebung im Auftrag des Europäischen Parlaments von 2009 kommt zu dem Ergebnis, dass auch auf dem alten Kontinent die Wahlbeteiligung mit zunehmendem Alter ansteigt: von 29,1 Prozent für die Jüngsten auf 50 Prozent für die über 50-Jährigen.

Und deswegen ist es auch kein Zufall, dass der soziale Status und die wirtschaftliche Lage sich für die Jungen sehr viel dramatischer darstellt, mit Arbeitslosenquoten zwischen 40 und 60 Prozent, insbesondere im Süden Europas. Das ist die sogenannte NEET-Jugend (not in employment, education or training): Sie tun nichts, sie verdienen nichts, sie zählen nichts.

An diesem Verhältnis zwischen den Generationen etwas zu ändern, wird sehr schwierig werden, solange die Jungen nicht zur Wahl gehen. Der italienische Schriftsteller Michele Serra hat in seinem Roman „Gli sdraiati“ (“Die Liegenden“) schon den kommenden Krieg zwischen Alten und Jungen vorweggenommen. Verlieren werden ihn Letztere – wenn sie sich nicht doch noch einen Ruck geben.

Aus dem Italienischen von Ambros Waibel

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