Tunesiens Küste und die Toten: Friedhof der Unbekannten

Einst liebte Chamseddine Marzoug das Meer, heute fürchtet er es. Denn es spült die Toten an. Mehr als 400 sind vor der Stadt Zarzis beerdigt.

Ein Mann steht zwischen im Sand angelegten Gräbern

Chamesedine Marzoug auf dem Friedhof der Unbekannten Foto: Mirco Keilberth

ZARZIS taz | Vor 16 Monaten fanden Fischer den Jungen ertrunken am Ufer. Seitdem liegt er hier. Auf einer Brachfläche im Sand begraben, umgeben von verrostetem Schrott und kargen Büschen, die scharf nach Zitrone riechen. Beerdigt wurde er Kopf an Kopf mit einer Frau, deren Körper man in seiner Nähe fand. Vielleicht seine Mutter.

In der Ferne flimmern die weißen Häuser von Zarzis. Eine staubige Kleinstadt, im südlichsten Zipfel Tunesiens, in der ganze Straßenzüge nach Benzin riechen. Geschmuggeltes Importgut aus dem nahen Libyen, das hier in bunten Kanistern auf Abnehmer wartet. Kamele fressen trockenes Gras von Bürgersteigen, die Wüste ist nah. Alles, was im Umkreis ins Wasser fällt, trägt die Strömung nach Zarzis oder bleibt verschollen, sagen die Männer im Hafen.

Auch der Junge kam auf diese Weise, angeschwemmt. Einer von vielen Toten der letzten Jahre. Einer von etwa 400 auf dem Friedhof der Unbekannten.

Ein Ort, der in seiner Trostlosigkeit eher an einen Parkplatz erinnert als an eine Ruhestätte.

Früher lagerte hier Müll

Braun, staubig. An den Rändern ragen die versandeten Reste einer ehemaligen Müllkippe empor. 50 Gräber sind hier ausgehoben, immer zwei Leichen liegen übereinander. Die Löcher sind tief. Mindestens zwei Meter. Sonst kommen die Hunde, sagen die Männer der Stadtverwaltung.

Früher lagerten sie hier den Müll von Zarzis, jetzt lagert hier totes Strandgut. Männer, Frauen und Kinder aus Syrien, Eritrea oder dem Sudan. Namenlose, ohne Geschichte, deren Traum von Europa auf dem Meer sein Ende nahm. Weil die Wellen zuschlugen oder den kleinen Booten die Luft ausging. Sie fielen ins Wasser, die Strömung trug sie nach Zarzis, in die Hände von Chamseddine Marzoug.

Marzoug, das linke Knie auf der Erde, rupft an diesen Oktobernachmittag Unkraut aus dem harten Boden. Aus seinen Bewegungen spricht die routinierte Langsamkeit des ewig gleichen Handgriffes. Die dünnen Blumen auf den Gräbern hat er gerade gegossen. Das Wasser zieht braune Linien in den Sand.

Marzoug ist ein stämmiger Mann, Anfang 50. Mit Vollbart, beigem Schlapphut und Weste. Ein Angler auf dem Trockenen, der das Meer früher liebte und jetzt fürchtet, weil es die Toten bringt. Weil es ihm seine beiden Söhne fast genommen hätte. Wie so vielen Familien in Zarzis.

Früher arbeitete Marzoug als Fischer. Ein kaputter Fuß zwang ihn vor drei Jahren an Land.

Marzoug besucht die, die nie Besuch bekommen. Weil niemand weiß, dass sie hier sind

Seitdem ist der Friedhof sein Tagesgeschäft, ein selbst gewähltes. Entstanden aus dem Gedanken, dass ein paar Löcher noch keinen Friedhof machen.

Meist kommt er am Abend, wenn die Sonne groß und rot wird und die Hitze des Tages mild. Er bringt Wasser für die Pflanzen und sammelt den Dreck auf, den der Wind von den angrenzenden Müllbergen hinüberweht. Er besucht diejenigen, die nie Besuch bekommen. Weil niemand weiß, dass sie hier sind.

„Das Salzwasser lässt nicht viel übrig“, sagt Marzoug, richtet sich auf und klopft den Staub von der Hose. Er holt sein Telefon aus der Westentasche. Über den Bildschirm ziehen Bilder, von ausgebleichten Körpern, die sanft auf den Wellen schaukeln. Von blanken Knochen und abgetrennten Gliedern. Marzougs Gesicht zeigt keine Regung. Die Fotos hat er selber gemacht. Sie zeigen seinen Alltag.

Foto: Mirco Keilberth

Rund 100 Tote brachten Chamseddine Marzoug und die Männer der Stadtverwaltung in den letzten zwei Jahren unter die Erde. Fast 400 seit 2003. Das Jahr, in dem die Stadtverwaltung einen Friedhof für die Fremden anlegen ließ, die das Meer in immer kleineren Abständen an die Strände spülte.

Und irgendwo eine Lücke

Ende der 1990er Jahre strandeten die ersten Leichen in Zarzis, so erzählt es der Bürgermeister. Eine Zeit, in der das nahe Libyen unter der Herrschaft von Muammar al-Gaddafi zum Transitland wird, für all diejenigen, die von Europa träumen.

Die ersten Toten beerdigte man auf den Friedhöfen der Stadt. Alle in Familienbesitz, privat geführt. Doch je mehr Tote kamen, desto weniger Platz gab es für die Fremden. Deswegen die Brache.

Seither ist sie Ruhestätte für die, von denen nicht viel bleibt. Eine Registriernummer im örtlichen Krankenhaus, ein brauner Sandhaufen am Rande einer tunesischen Kleinstadt. Und irgendwo eine Lücke, in einer fernen Familie, die auf Nachricht hofft. Von einem Sohn, einem Bruder oder der Schwester, die verloren ging, irgendwo auf dem großen Treck nach Europa.

„Die Toten haben nur noch mich“, sagt Marzoug. Lange schaut er auf die braune Hügellandschaft. Manchmal frage er sich, wie das Leben seiner Toten aussah. Was für Leben ließen sie zurück? Eine Familie, einen Job, ein Haus?

Fragen, auf die Marzoug nie Antworten bekommen wird. Das macht ihn wütend. Die Ungerechtigkeit, die Wahllosigkeit des Sterbens auch nach Jahren noch. „Wofür das alles?“, fragt er. „Für Europa? Das uns nicht will?“

Foto: Mirco Keilberth

Laut der Internationalen Organisation für Migration starben in diesem Jahr 1.282 Menschen bei dem Versuch, Italien zu erreichen. Die Zahl der Überfahrten wird zwar geringer, aber die Route wird gefährlicher. Italien verschärft seine Einwanderungspolitik, zivile Rettungsschiffe werden festgesetzt und die libysche Küstenwache ausgebaut. Musste im letzten Jahr noch einer von 42 Menschen auf dem Meer sein Leben lassen, ist es jetzt einer von 18.

Am Abend in den staubigen Straßen von Zarzis, die so dunkel und verzweigt sind wie ein Irrgarten. Zwischen einem Rohbau und einem Stück Wiese sitzen die Männer aus der Nachbarschaft auf bunten Plastikstühlen. Die Alten träge, die Jungen laut und ungeduldig. Auf ihren Telefonen flimmert das schöne Europa. Wer jetzt noch hier sitzt, der ist im Kopf längst drüben. Über ihren Köpfen ragen Bambusschirme wie Pilze in die Nacht.

Marzoug schlendert langsam durch die Reihen, bleibt hier und da stehen, begrüßt, nickt, lacht und lässt sich schließlich in einen gelben Stuhl sinken. Jeder kennt ihn hier, den Mann, der seine Zeit bei den Toten verbringt.

Eine Schnur, die sich nicht vergessen lässt

Ein junger Kellner, in schneeweißem Hemd, bringt schwarzen Kaffee aus dem angrenzenden Café, ein paar lose Zigaretten, Marlboro. Marzoug lehnt sich zurück, raucht und beginnt zu erzählen. Von Dingen, die er tagsüber vergisst und nachts nicht mehr vergessen kann.

Ein Sonntagmorgen, Ende August 2014. Am Strand der Nachbargemeinde Ben Gardane werden 42 Leichen angespült und die Reste eines hellblauen Holzbootes. Unter den Toten acht Frauen und fünf Kinder, die blauen Schwimmwesten teils noch am Körper. Rettungskräfte finden syrische Identitätspapiere. Auch Marzoug hilft beim Bergen, holt die Körper aus dem Wasser, hebt Gräber aus. Arbeit, die er freiwillig macht, als Helfer für den Roten Halbmond, das arabische Pendant zum Roten Kreuz in Europa.

Was er damals sieht, verfolgt ihn bis heute: Mutter und Sohn. Die Frau hatte sich ihr Kind mit einer Schnur ans Handgelenk gebunden. „Damit sie es nicht verliert“, sagt Marzoug, steckt die Zigarette in den Mundwinkel, fährt mit den Fingern die Schnur nach, den Knoten am Handgelenk. Als würde diese Geste es einfacher machen, zu verstehen.

Wenn Marzoug vom Tod erzählt, dann leise. Eine Art des Erzählens, die mit der Erfahrung kommt. Seine erste Leiche findet er Ende der 1990er Jahre auf dem Meer. Ein ertrunkener Flüchtling aus Libyen, so erzählt es Marzoug. In den Jahren danach bringt die Strömung immer wieder neue Tote nach Zarzis. Erst vereinzelt, ab 2011 in wirren Knäueln aus Körpern. Am Strand, im Wasser, in den Netzen der Fischer.

Es ist das Jahr der Jasminrevolution, in dem der Arabische Frühling durch Tunesien wirbelt und das Nachbarland Libyen im Bürgerkrieg versinkt. Ein Jahr, in dem Zarzis zum Unterschlupf für Verfolgte auf dem Weg nach Europa wird.

Rund 300.000 Menschen flüchten zwischen Februar und Mai 2011 aus Libyen nach Tunesien. Es sind vor allem Libyer, aber auch Arbeiter aus Subsaharastaaten. Sie fliehen aus einem Land, das im Bürgerkrieg versinkt.

Manch ein Fischer machte das Geschäft seines Lebens. 100 Leute an Deck, macht 50.000 Euro in einer Nacht

Und kommen in einen Staat, der ebenfalls zerfällt. Nach der Flucht des tunesischen Diktators Ben Alis, Mitte Januar 2011, gilt der Ausnahmezustand. Die tunesischen Behörden arbeiten nur noch langsam oder gar nicht mehr, die Grenzkontrollen fallen weg, und Zarzis wird zur Transitstation. Die Strände sind flach, weit und unbeobachtet. Lampedusa in 17 Stunden erreichbar. An manchen Tagen steigen hier rund 400 Menschen in die Boote.

Das UNHCR schätzt, dass zwischen Januar und September 2011 rund 42.000 Menschen Italien erreichen. Sie stolpern an die Strände von Lampedusa und Sizilien. Fast die Hälfte der Ankommenden sind Tunesier. Jung, männlich, oft gut gebildet und so frustriert von der Perspektivlosigkeit im eigenen Land, dass sie der Tod auf See nicht mehr schreckt. Für viele dieser „Grenzverbrenner“, wie im Arabischen jene genannt werden, die illegal von Land zu Land ziehen, beginnt die Reise in Zarzis.

Ein Pakt gegen den Tod

Chamseddine Marzoug arbeitet damals noch als Fischer. Die Tage nach der Revolution verbringt er auf dem Meer. Die Nächte auf seinem Boot im Hafen, um es vor Ausreisewilligen und Schleppern zu schützen.

„Alle wollten weg“, sagt Marzoug, versinkt in einer Rauchwolke und erzählt von einer Stadt, einem ganzen Land in Aufruhr. Ganze Schulklassen seien damals verschwunden, jede Nacht hätten Dutzende Boote abgelegt. Schlepper hätten alles aufs Meer geschickt, was sie fanden: Holzboote, Fischerboote, Gummiboote.

Manch ein Fischer macht das Geschäft seines Lebens. Eine Überfahrt kostet 1.000 Dinar, damals rund 500 Euro. 100 Leute an Deck, macht 50.000 Euro in einer Nacht.

Marzoug verkauft sein Boot nicht, viele seiner Kollegen sperren sich ebenfalls. Sie schließen einen Pakt, den Tod auf dem Meer wollen sie nicht verantworten. Das Fanggebiet der Fischer von Zarzis liegt auf der Route Tunesien–Italien. Die Männer wissen, wie schnell das Wetter hier umschlägt und was dann mit Booten passiert, die nicht seetauglich sind oder von Laien geführt werden.

1.500 Menschen ertrinken oder verschwinden in diesen Monaten. Eine Zeit, in der Marzoug und seine Kollegen oft ohne Fang in den Hafen kommen. Statt Fischen ziehen sie Menschen an Bord.

„Das Meer wurde damals zum Friedhof“, sagt Marzoug und zeigt ein Handyvideo, in dem leblose Körper aus Fischernetzen geschnitten werden.

Es sind diese turbulenten Monate, diese Erfahrungen, die Marzoug später zum Friedhofswärter werden lassen. Und zu einem Mann, dessen bloße Erwähnung reicht, um lokale Behördenmitarbeiter ihre Beherrschung verlieren zu lassen.

Den Drang, übers Meer zu verschwinden, kann Marzoug verstehen. „Die Grenze muss weg“

2011, als das Nachbarland Libyen im Chaos versinkt, arbeitet Marzoug als Freiwilliger in den Flüchtlingslagern der Umgebung. Er versorgt Kranke mit Arzneimitteln, fährt sie ins Hospital. Er knüpft Kontakte zu syrischen Familien und jungen Männern aus ganz Afrika.

Es sind die gleichen jungen Männern, die ihn auch heute noch grüßen, wenn er durch die Straßen seiner Nachbarschaft schlendert. Begleitet man ihn, dann erfährt man, dass sie illegal im Land sind, auf dem Bau arbeiten oder von einer Fußballkarriere in Europa träumen. Sie alle wollen weg, übers Meer.

Es sind die gleichen jungen Männer, die Marzoug unter die Erde bringt, wenn ihr Traum am Strand von Zarzis endet. Für Chamseddine Marzoug Grund genug, dafür zu sorgen, dass ihre letzte Ruhestätte mehr ist als ein anonymes Massengrab am Rande einer stillgelegten Müllkippe.

Ein Engagement, das nicht jeder in Zarzis schätzt.

Marzoug kann gut erzählen

Ein Morgen im Rathaus der Stadt, einem weißen Bungalow im Zentrum, Überbleibsel der französischen Kolonialzeit. Palmen säumen den Eingang. Auf dem Dach flattert der Halbmond der tunesischen Flagge im Wind. Der Bürgermeister Mekki Laraiedh, ein rundlicher Mann mit grauem Bürstenschnitt und blauem Kurzarmhemd, ist frisch im Amt. Drei Monate, der erste frei gewählte Repräsentant nach der Revolution. Man nimmt Platz auf senfgelben Sofas. Der Bürgermeister bleibt hinterm Schreibtisch, drei namenlose Mitarbeiter im Rücken.

„Das ist nicht sein Friedhof“, sagt der Bürgermeister. Die Erwähnung von Marzoug nervt ihn sichtlich. Chamseddine Marzoug dränge sich lediglich in den Vordergrund und lasse das Engagement der Stadt klein aussehen. Er erzählt von städtischen Angestellten, die Gräber ausheben und dem Amtsarzt, der die Toten im lokalen Krankenhaus obduziert. „Außerdem“, beendet er seinen Monolog „hat die Stadt das Grundstück gekauft!“ Er hält den Vertrag hoch und tippt mit dem Zeigefinger wütend aufs Papier.

Foto: Mirco Keilberth

Dieser und viele weitere Artikel wurden durch finanzielle Unterstützung des Auslandsrecherchefonds ermöglicht.

Ein bisschen kann man seine Rage verstehen. Die Geschichte vom ehemaligen Fischer, der jetzt Friedhofswärter ist, geht seit einiger Zeit um die Welt. Und Marzoug macht gerne mit. Er kann gut erzählen, Kameras machen ihn nicht nervös. Er wirkt sympathisch. Eine italienische Filmemacherin drehte jüngst einen Dokumentarfilm über ihn.

Früher war Zarzis bekannt für schöne Strände, kilometerlange Olivenhaine und ein Abendlicht, das sich wie eine blaue Decke über die Stadt legt. Noch immer residieren reiche Franzosen in den weißen Kolonialvillen am Meer. Doch seit der Revolution und den Anschlägen auf Touristen im nahen Djerba im Jahr 2002, in Tunis und Sousse im Jahr 2015, kommen weniger Ausländer. Die Hotels bleiben leer. Die Toten am Strand, Marzougs Geschichte. Das macht es nicht besser.

Die Hoffnungen des arabischen Frühlings sind dahin

Dass Chamseddine Marzoug als Privatperson agiert, die Blumen und das Gießwasser selber finanziert, schnauft der Bürgermeister wütend weg. Am Ende des Gespräches ist klar: Die Stadt­oberen würden auf Marzougs Blumen gerne verzichten. In ihren Augen ist der Friedhofswärter ein Störenfried, der mit seinem individuellen Engagement die Autorität und das Ansehen einer ganzen Behörde, einer ganzen Stadt, untergräbt.

Eine Gefühlslage, die viel erzählt über das Tunesien der Gegenwart. Ein Land, das auch sieben Jahre nach der Revolution in einem gesellschaftlichen Netz aus Konventionen und Religion feststeckt, das streng geknüpft ist. Vor allem in den ländlichen Gegenden. Hier reicht schon ein ausgefallenes Hobby, ein ungewöhnlicher Gedanke, um in der Nachbarschaft für Gesprächsstoff zu sorgen.

Zwar hat sich viel getan in Tunesien. Frauen sind, zumindest auf dem Papier, den Männern im Alltag gleichgestellt, Versammlungs- und Meinungsfreiheit sind in der Verfassung aus dem Jahr 2014 fest verankert.

Trotzdem macht sich der Frust breit im Land, die Hoffnungen des Arabischen Frühlings sind dahin.

Die Polizei gilt als eine der korruptesten Institutionen des Landes. Homosexualität ist noch immer strafbar. Kritische Journalisten werden vielfach eingeschüchtert. Der erhoffte Aufbruch, er steckt fest. Hinzu kommt die prekäre wirtschaftliche Situation.

Italien, dritter Versuch

Die Arbeitslosenquote liegt bei 15 Prozent, die der Jugendarbeitslosigkeit bei 36. Jeder dritte Hochschulabsolvent findet keinen Job. Der Dinar verliert an Wert, die Inflationsrate steigt. So wie Tunesiens Staatsschulden. Im Januar 2018 gehen Zehntausende Tunesier auf die Straße. Sie protestieren gegen Steuererhöhungen und Preissteigerung. Es sind die größten Aufstände seit sieben Jahren.

Und wieder steigen die Menschen in die Boote. Und wieder sind es die Jungen, die sich aufmachen, vor allem nach Italien. Allein 5.000 in den letzten Monaten. So viele wie seit der Revolution nicht mehr. Damit stellen Tunesier erstmals die größte Gruppe der Ankommenden, das zeigen Zahlen des UNHCR.

Am Nachmittag in Marzougs Stammcafé. Die meisten Stühle sind noch leer. Marzoug sitzt unter einem der Bastschirme, das übliche Gedeck aus Kaffee und Kippe auf dem Tisch. Sein Begleiter ist ein junger Mann, Anfang zwanzig, mit Kindergesicht und riesigen blauen Augen. Seinen Namen will er nicht nennen. In den nächsten Tagen will er wieder los, rüber nach Italien. Er will nicht, dass irgendjemand davon erfährt, nicht seine Eltern, nicht die tunesischen Behörden.

Dreimal habe er schon versucht, Italien zu erreichen, erzählt er und zieht lässig an seiner Zigarette, die ihn in diesem Moment eher jünger als älter wirken lässt. Einmal sei er noch direkt am Strand verhaftet worden, einmal sei das Boot kaputt gegangen. Sein letzter Versuch liegt rund zwei Monate zurück. Was er von diesem Tag erzählt, hört sich an wie ein Krimi und ist doch nur Alltag.

Von Europa im Stich gelassen

Ein Mittwochmorgen Ende August, 84 Meilen südlich von Lampedusa. Ein blau-weißer Fischkutter dümpelt ruhig über die kleinen Wellen. Die Sicht ist gut, die Netze sind ausgeworfen. An Bord sind sechs Fischer aus Zarzis.

Gegen elf Uhr entdecken sie in der Ferne ein Boot aus weißem Hartplastik, in dem normalerweise Angler sitzen. Etwa fünf Meter lang. An Bord: 14 Männer zwischen 14 und 25 Jahren. Der Junge mit den blauen Augen ist einer von ihnen.

Was dann passiert, lässt sich aus italienischen Gerichtsakten und den Erzählungen des Jungen und der beteiligten Fischer zusammensetzen.

Die sechs Fischer verteilen Lebensmittel und bieten den Jungen an, sie zurück an Land zu bringen. Einer der Jungen droht damit, sich anzuzünden, sollte man ihn nach Tunesien zurückbringen.

Die Crew kontaktiert die italienische Küstenwache. Die Antwortet nicht, stundenlang. Irgendwann entschließen sich die Fischer, das kleine Boot in den nächsten sicheren Hafen zu schleppen, nach Lampedusa. 24 Meilen vor dem Ziel nimmt ein Schiff des italienischen Zolls die Passagiere an Bord und verhaftet die Fischer. Einen Monat lang sitzt die Crew in einem Untersuchungsgefängnis auf Sizilien. Am 19. September ordnet ein italienisches Gericht ihre umgehende Freilassung an. Der Vorwurf des Menschenschmuggels wird fallen gelassen.

Das Boot der Fischer liegt seither in Italien. Für sie ein Verdienstausfall. Der Kapitän Chamseddine Bourassine betritt seit dem Vorfall nicht mehr den Hafen. Von Europa fühlt er sich im Stich gelassen.

Der Junge mit den blauen Augen sagt, niemand könne ihn daran hindern, nach Europa zu kommen.

Nicht Frontex, nicht die tunesische Küstenwache, nicht die EU. „Ich sterbe lieber auf dem Meer als hierzubleiben.“

Alle seine Freunde seien schon drüben, sagt er, holt ein schwarzes Mobiltelefon hervor und zeigt Bilder von jungen Männern, die in die Kamera schauen. Wie Gewinner, die Daumen nach oben. Die Frisuren, die Klamotten großstädtisch. Im Hintergrund die Straßen von Paris.

„Hier gibt es nichts für uns“, sagt er und schaut auf den Staub der Nachbarschaft. Die letzten Jahren hat er als Hilfskraft auf dem Bau verbracht. Er erzählt von denen, die in den Sommermonaten zurückkommen, mit ihren Motorrädern und ihren neuen Häusern im Ort. Von den Familien, die ihre Töchter denjenigen mitgeben, die im Besitz des begehrten Europa-Tickets sind und den anderen, den Jungs wie ihm, denen nichts bleibt als zu hoffen, es irgendwann auch mal auf die andere Seite zu schaffen.

Den Plan für Europa hat er bereits im Kopf, bis ins kleinste Detail. Mit einem großen Lächeln im Gesicht erzählt er von seinem zukünftigen Job: Pizzabäcker in Paris. Der Laden gehöre einem Freund, sagt er. Seinen Lohn, seine Ausgaben, und das Geld, das er seinen Eltern schicken will, hat er bereits genau berechnet. Einen Schlafplatz hat er auch schon. Fehlt nur noch die Überfahrt.

„Die Jungen träumen alle von Europa“, sagt Marzoug, der bisher still zugehört hat. Diese Geschichte hört er nicht zum ersten Mal. Jeder in Zarzis kennt sie. Manchmal geht sie gut aus, manchmal schlecht.

Marzoug erzählt von seinem vierzehnjährigen Neffen, den man vor ein paar Wochen von einem kaputten Boot rettete. Von seinen Söhnen, 23 und 19 Jahre alt, die seit fast zwei Jahren in Paris leben. Auch sie stiegen ins Boot. „Ich wusste davon nichts“, sagt Marzoug, „nur meine Frau.“ Er lacht. Wie über einen Dummenjungenstreich.

Erzählt er von seinen Söhnen, wird sein Gesicht weich. Einmal hat er die beiden schon besucht, in Paris. In ihrem neuen Leben. „Sie sind aufgeblüht“, sagt Marzoug. Den Drang, übers Meer zu verschwinden, kann er verstehen. Dass seine Kinder, die seiner Freunde und Nachbarn für Europa den Tod riskieren müssen, nicht. Dass seine Fischerkollegen verhaftet werden, das auch nicht. „Die Grenze muss weg“, sagt Marzoug. Da ist er ganz bestimmt.

Vor einigen Tagen hat die Stadt Zarzis ein Grundstück gekauft. Noch drei Tote, dann ist der Friedhof der Unbekannten voll. Marzoug will auch aus dieser Brache wieder einen Friedhof machen.

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