Trauer in Orlando: Ein Moment der Einigkeit

Während die Politiker des Landes das Attentat für ihren Wahlkampf nutzen, ist die Stimmung in Orlando von Trauer und Solidarität geprägt.

Trauernde Menschen halten Kerzen in den Händen

Teilnehmer der Gedenkwache in Orlando am Montagabend Foto: ap

ORLANDO taz | Tim Hetzner stellt Susie vor, indem er Visitenkarten verteilt. Susie, die Beruhigende. Bei Susie, steht auf den bunten Kärtchen, handle es sich um eine gute Freundin, bei der man sich alles von der Seele reden könne, was einen bedrücke. Zu einem Hund zu sprechen sei ja manchmal einfacher, als sich einem Menschen zu offenbaren, sagt Hetzner.

Der Pfarrer aus Arlington Heights, einem Vorort Chicagos, war mit seinen Vierbeinern zur Stelle, als der Hurrican „Katrina“ in New Orleans die Dämme brechen ließ. In der Rolle eines Seelentrösters flog er nach New Jersey, wo der Wirbelsturm „Sandy“ die Küste verwüstet hatte, und kurz darauf reiste er in das idyllische Neuengland-Städtchen Newtown, wo ein geistig verwirrter Schütze in einer Grundschule Amok gelaufen war. Seit Montag ist Hetzner mit seinem Trupp in Orlando. Zwanzig Helfer, zwölf Hunde, Golden Retriever, um genau zu sein, die nun im „Center“, einer Beratungsstelle für Schwule, auf ihren Einsatz warten.

Es ist eng, laut und klimaanlagenkühl in dem kleinen Raum voller Regenbogenflaggen, in dem Rob Domenico das Chaos zu ordnen versucht. Über sozia­le Netzwerke hat Domenico um Hilfe gebeten, weil die Angehörigen und Freunde der Toten und Verletzten psychologischer Betreuung bedürfen. In kürzester Zeit haben sich mehr als 200 Freiwillige gemeldet, neben Hetzner auch Carl Clay, 43, der Baptistenpfarrer war, bevor er sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte. Das Massaker im Schwulenclub Pulse bezeichnet er auch deshalb als einen „furchtbaren Schlag in die Magengrube“, weil es mitten in eine Zeit platzte, als Amerikas Schwule und Lesben eigentlich feiern wollten.

Ein Wendepunkt?

Im vergangenen Juni, fast auf den Tag genau vor einem Jahr, hat der oberste Gerichtshof in Washington die Homo-Ehe für rechtens erklärt und damit alle Hürden aus dem Weg geräumt, die einzelne Bundesstaaten potenziellen Ehepartnern gleichen Geschlechts noch in den Weg stellten. Er wisse schon, sagt Clay, dass viele seiner Landsleute das mit der Homo-Ehe nach wie vor skeptisch sähen. Ein Gerichtsentscheid bedeute noch lange nicht, dass auch die Gesellschaft die Entscheidung mittrage. Vielleicht bedeute die Tragödie von Orlando, so merkwürdig das angesichts des Horrors auch klinge, aber so etwas wie einen gesellschaftlichen Wendepunkt. „Vielleicht ist es der Moment, in dem man die Etiketten endlich ablegen kann. Heterosexuelle, Homosexuelle – so what? Wir sind Menschen, ihr seid Menschen, das ist alles, was zählt.“

Russell Walker kam vor sieben Jahren aus Schottland nach Orlando, um Aidskranke zu betreuen. Im Pulse saß er einmal pro Woche an einem Spielkartentisch, wie im Casino. Aufgewachsen ist er in der Nähe der Kleinstadt Dunblane, wo ein Amokläufer 1996 in einer Grundschule 16 Erstklässler und deren Lehrerin erschoss. In Großbritannien hat man damals unverzüglich Lehren daraus gezogen, Gesetze verschärft. In den Vereinigten Staaten, fürchtet Walker, wird wohl nicht einmal der Schock eines solchen Massakers zu strengeren Waffenparagrafen führen.

US-Präsident Barack Obama will Donnerstag nach Orlando reisen, um Opfern und Hinterbliebenen des Terroranschlags seinen Respekt zu zollen.

„Ich will sie nicht in unserem Land haben“, sagte der Präsidentschaftsanwärter der Republikaner, Donald Trump, über radikale Islamisten. Er versuchte auch bei der Homosexuellen-Community zu punkten. Über das Fischen nach neuen Wählerschichten hatte er vergessen, den Hinterbliebenen zu kondolieren. Am Montag holte er das mit einer Schweigeminute nach.

Seine Kontrahentin Hillary Clinton lobte ausdrücklich Expräsident George W. Bush, und dass nach dem Terror von 2001 alle politischen Lager zusammengearbeitet hätten – ein Seitenhieb gegen Trump.

Es ist ein Punkt, an dem er, der Europäer, seine neue Heimat nie ganz verstehen wird. Gewiss, das Recht auf privaten Waffenbesitz sei qua Verfassung verbürgt, aber als man den Passus zu Papier gebracht habe, seien die Waffen noch Musketen gewesen, keine halbautomatischen Maschinen. „Es kann mir doch keiner erzählen, dass jemand ein Schnellfeuergewehr braucht, aus dem er in einer ­Minute hundertmal feuern kann.“

Gerüchte, Erklärungsversuche

Domenico, Clay, Walker – sie alle haben Geschichten gehört, nach denen Omar Mateen, der Todesschütze im Pulse, fast so etwas wie ein Stammgast in dem Lokal gewesen sein soll. Im Durchschnitt alle zwei Wochen, seit drei Jahren schon, soll er dort gesessen und getrunken haben. Mal überaus freundlich, mal aufbrausend – es gibt verschiedene Versionen. Ob er selber schwul war und diesen Hass an Unschuldigen ausließ? Verschiedene Erklärungsversuche machen an diesem Abend die Runde. Er verstehe gar nicht, warum man ein Entweder-Oder daraus mache, meint der Schotte Walker. „Es kann doch beides zugleich gewesen sein, wie soll man das überhaupt trennen?“

Jedenfalls wissen sie im Center nicht mehr, wohin mit all den gespendeten Mineralwasserflaschen, den Snacks, den Ratgeberbüchern. Ähnliches ist überall in Orlando zu sehen. Mehr als 5.000 Menschen haben in den letzten zwei Tagen Schlange gestanden, um Blut zu spenden, viele vor mobilen Ambulanzen in Form von roten Bussen.

„Rodolfo Ayala. Luis Daniel Leon. Mercedes Flores.“ Rasha Mubarak liest Namen der Menschen vor, die das Massaker nicht überlebten. Mubarak leitet das Büro des Council on American-Islamic Relations, einer Bürgerrechtsorganisation in Orlando. Dass Mubarak zu denen gehört, die feierlich Namen verlesen, als die Stadt am Montagabend ihrer Toten gedenkt, ist an sich schon ein Signal.

„Wir sind der Schmelztiegel“

„Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren! Wir sind eine Stadt, die alle einschließt, wir sind der amerikanische Schmelztiegel, wir akzeptieren jede Art, sein Leben zu leben“, ruft Bürgermeister Buddy Dyer den Tausenden zu, die sich auf der Wiese vor dem Dr. Philipps Perfoming Arts Center, einer Art Kunsthalle, versammelt haben. Auf seinem T-Shirt trägt der Mayor ein Herz in Regenbogenfarben, und allein schon die Rednerliste soll widerspiegeln, was für eine bunte Metropole Orlando ist: Aktivisten der Schwulenbewegung, islamische Geistliche, der Pfarrer der Iglesia El Calvario, einer Kirche, in der sonntags beim Gottesdienst Spanisch gesprochen wird.

Erst langsam wird vielen bewusst, dass die meisten, die im Pulse ums Leben kamen, die Kinder oder Enkel von Einwanderern sind, die aus Lateinamerika stammen. Muhammad Mursi, der prominenteste Imam Mittelfloridas, sagt einen Satz, für den er spontanen Beifall bekommt. „Wir rufen die islamischen Gemeinden in diesem Land und in aller Welt auf, aufzustehen, sich mit diesem Krebsgeschwür auseinanderzusetzen und es ein für alle Male auszumerzen.“

Fast wie beim Rockkonzert

In Orlando tun sie das, was Amerikaner nach einem Terroranschlag gewöhnlich tun: Man rückt zusammen. Nur steht es diesmal in auffälligem Kontrast zum giftigen Ton auf der politischen Bühne, auf der fiebrige Wahlkampfstimmung und die populistischen Tiraden eines Donald Trump jeglichen Schulterschluss verhindern.

Umso demonstrativer zelebriert Orlando seine Einigkeit. Am Ende der Mahnwache werden sie Kerzen anzünden, vorher nehmen viele bunte Kreidestifte zur Hand, um auf eine vierzig Meter lange Bahn Packpapier zu schreiben, was ihnen gerade durch den Kopf geht. „Die Magie unserer Stadt liegt nicht in ihren Burgen“, hat jemand unter Anspielung auf die Disneyland-Märchenschlösser in der Nähe vermerkt. „Sie liegt in den Menschen, die zusammenstehen.“

Als Neema Bahrami, der Manager des Pulse, die Bühne betritt, gibt es kein Halten mehr. Bei aller Trauer, die Stimmung gleicht jetzt der bei einem Rockkonzert. Bahrami bündelt sie in einem Satz, den er förmlich hinausschreit, Wort für Wort einzeln betonend. „Wir – lassen – uns – nicht – unterkriegen!“ – „Eines sollt ihr wissen: Wir gehen nicht fort. Wir sind hier, um zu bleiben.“ Dann sagt er, dass jetzt wohl alle hier eines am nötigsten brauchen: eine kollektive Umarmung.

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