Tja, er klaute

Und hinterher verschenkte er's. Eine Biographie und eine Dokumentation über Jean Genet, Outlaw  ■ Von Ina Hartwig

Als zu einer Premierenfeier in Kopenhagen „lauter Schwuchteln“ eingeladen waren, wurde er zickig. Jean Genet wollte selbst bestimmen, zu wem er gehörte und zu wem nicht. Zu den Schwulen wollte er nicht gehören – jedenfalls nicht nach 68, als deren Rebellion in Normalität überzugehen drohte. Seine Homosexualität sollte mit Assimilation nichts, mit Ausgestoßenheit, Schuld und Kriminalität um so mehr zu tun haben. Vor allem wollte Genet die Grade seiner Abweichung selbst definieren – manchmal auch krampfhaft, wie sein jüngster Biograph Edmund White treffsicher erkennt.

Als amerikanischer Romanautor mit Wohnsitz in Paris und erklärter gay writer, hat White, was sexuelle Möglich- und Unmöglichkeiten betrifft, die Sicherheit und Unerschrockenheit des Eingeweihten. Niemals habe ich eine so unhysterische Homosexuellen- Biographie gelesen. White, der in einem Interview bekennt, er hätte mit Genet wahrscheinlich nicht befreundet sein wollen, erklärt nicht dessen Leben, er wundert sich eher darüber. Das tut er elegant und gründlich.

Üblicherweise pflegen (besonders englische) Biographen zu bemerken: „In diesem frühen Text erkennen wir schon das spätere Genie von ...“ White dagegen staunt: „Nichts an Genets Briefen [von 1939, die Red.] – banal, hochgestochen und schlecht geschrieben – ließ vermuten, daß sich ihr Verfasser nur vier Jahre später zu einem der elementarsten und überzeugendsten französischen Romanciers des 20. Jahrhunderts mausern würde.“ Es ist eine produktive Arbeitshypothese, daß alles in Genets Leben auch hätte anders kommen können.

Wer Genets Werk kennt, weiß: Väter kommen darin nicht vor. Es sind die Mütter, die den Söhnen ihre Namen vererben. So ist es auch in Genets Fall. Eine kleine Sensation ist die Vermutung, Genet habe wahrscheinlich einen Halbbruder, der unbekannt bleiben möchte. Von seiner Mutter im Alter von sechs Monaten zur Adoption frei gegeben, kam Jean Genet im Sommer 1912 als Fürsorgezögling des französischen Staates zu einer Pflegefamilie in das Dorf Alligny-en-Morvan, wo er bis zu seinem 13. Lebensjahr blieb und insgesamt sieben Jahre (danach nie wieder) zur Schule ging. Bevor Genet ab 1924, fast 20 Jahre lang, wechselweise Häftling und chronischer Ausbüchser ist, bevor er als Soldat, Deserteur, Landstreicher, Schwarzfahrer und kleiner Dieb seine Lehr- und Wanderjahre durch den Nahen Osten und viele Länder Europas antritt, bevor er insgesamt 13 Mal verurteilt wird und fast vier Jahre in verschiedenen Gefängnissen unterschiedlicher Länder, darunter Polen, absitzt, verbringt Genet eine einigermaßen normale Kindheit auf dem Land. In seinen Romanen strickt Genet eine andere Legende: „Aus seinen Pflegeeltern machte er grausame Ungeheuer, und aus seiner Stellung in der dortigen Gemeinde die eines beispiellos verachteten Waisenkindes.“

Alle Dokumente belegen: Der kleine Genet wurde von seiner Pflegemutter gehätschelt (sie starb, als er zwölf war), er war der Liebling des Lehrers (erhielt Extrastunden von ihm), las alles, was er in die Hände bekam (ausrangierte Modezeitschriften, Trivialromane), tat sich als sauber Latein rezitierender Meßdiener hervor, sang im Chor – und: „Tja, er klaute“, wie es ein ehemaliger Mitschüler ausdrückt. Was? Buntstifte und Lineale, Süßigkeiten, kleine Geldsummen. Jean Cocteau beliebte später zu sagen: „Du bist ein guter Schriftsteller und ein schlechter Dieb.“

Alle, die Genet als Kind kannten, sind sich einig, daß er nichts von dem, was er klaute, für sich behielt, sondern sofort verteilte – eine Gewohnheit, die Genet im Alter beibehielt. Mit anderen Worten: Genet klaute offen.

Edmund White hat das Glück, daß Genets erste Lebenshälfte, die Zeit von 1910 bis 1944, ausgezeichnet dokumentiert ist: in dem „Versuch einer Chronologie“ von Albert Dichy und Pascal Fouché, der, in Frankreich schon 1988 erschienen, seit diesem Frühjahr auch auf deutsch vorliegt. Dichy und Fouché erzählen nicht, sondern ordnen jene Jahre, bevor Genet als poète maudit in Paris schlagartig bekannt wurde, anhand von Interviews, Zeitungsartikeln, Gerichts-, Polizei- und Schulakten. So etwa sind sämtliche 13 Verurteilungen Genets anhand transkribierter Gerichtsprotokolle dokumentiert, was vor allem eines klarmacht: Man kam verdammt schnell ins Gefängnis damals. Nachgewiesenes Landstreichertum, Schwarzfahren oder winzige Diebstähle (etwa eines Stofftaschentuchs) reichten, um ein paar Wochen hinter Gittern zu verschwinden.

Im Unterschied zu seinen Romanhelden hat Genet niemals jemanden umgebracht, und auch seine Diebstähle (mit denen er nie ganz aufhören konnte) deuten weniger auf einen kriminellen als vielmehr auf einen asozialen Charakter hin. Den allerdings haben, erstaunlicherweise, schon Genets Mitschüler gespürt – jedenfalls die Jungen („Auf die anderen Kinder der Fürsorge hatte er einen schlechten Einfluß“, „Er war kein ehrlicher Bursche“). In Interviews, die Dichy und Fouché geführt haben, erinnern die Frauen sich dagegen zärtlich an Genet, etwa seine Spielkameradin Marie-Louise Robert: „Eines der bevorzugten Spiele Jeans war, Taufen zu veranstalten. Wir tauften so ungefähr alles, was uns unter die Finger kam:

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meine Puppen, die Katzen, Hunde ... Rigadin, der Hund von Antonin und Berthe, ist mindestens zehnmal getauft worden!“

White konnte nicht nur auf diesen sorgfältigen „Versuch einer Chronologie“ zurückgreifen, er wurde von dem Genet-Forscher und Archivar Albert Dichy auch direkt bei seinen jahrelangen Arbeiten an der Biographie unterstützt. Dichy verfaßte die (unerläßliche) „Zeittafel“ für Whites Buch und ermöglichte diesem den Zugang zu vielen unveröffentlichten Manuskripten Genets – was Whites Biographie zusätzlich zu einer Fundgrube bislang unbekannter Primärtexte macht, darunter etliche Briefe und zwei lange Filmskripte („Le Bagno“, „Le langage de la muraille“).

Niemand hatte vor ihm gewagt, die Grenze zwischen Pornographie und hoher Literatur zu mißachten (auch nicht der akademische Sade); Genet tat es. Sein Entdecker und Förderer, der homosexuelle reiche Bourgeois und Dekadenzartist Jean Cocteau, der es vermochte (meint White), seine übersprudelnde Persönlichkeit zum Kunstwerk zu machen, nicht aber sein Werk, hatte Grund zur Eifersucht. Genet und Cocteau begegneten sich 1943 in Paris, als jener, ausnahmsweise einmal nicht im Gefängnis, eine kleine Bouquinistenkiste an einem Pariser Quai betrieb (Genet verkaufte gestohlene Bücher). Das einzige, was Genet zu diesem Zeitpunkt vorzeigen konnte, war ein Gedicht und das Manuskript seines ersten, im Gefängnis geschriebenen Romans „Notre-Dame des Fleurs“.

Genet wurde mit der Wucht prominent, mit der seine Phantasie explodiert war. Ein 33jähriger Mann, der nur sieben Jahre zur Schule gegangen war, sich fast zwanzig Jahre lang, ohne Wohnsitz und Geld, herumgeschlagen hatte, brachte in einer der „fruchtbarsten Perioden der Literaturgeschichte“, von 1942 bis 1946, fünf Romane zustande, in denen Homosexualität in nie gesehener Weise als poetisches, schuldbeladenes, verräterisches, süßes Universum präsentiert wird, in einem Gemisch aus mittelalterlicher Dichtung, elaboriertem Französisch und Tuntenargot. Wie konnte das sein? Fest steht: Als die fünf Romane geschrieben waren, zwei davon im Gefängnis, brachte Genet noch ein Theaterstück zustande, dann war er (erst einmal) ausgebrannt. Es gilt ja ein bißchen als ausgemacht, daß Sartre Genet mit seinem unglaublich schmeichelhaften, philosophischen Riesenessay „Heiliger Genet, Komödiant und Märtyrer“, der 1952 als erster Band von Genets gesammelten Werken bei Gallimard erschien, geistig erstickt habe. White ist anderer Meinung: Genet konnte schon vorher nicht mehr weiter. Mit knapp vierzig Jahren war Genet das Denkmal eines Landes geworden, in dem er sich zeit seines Lebens recht wenig aufgehalten hat, eines Landes, das er zu hassen behauptete. Irgendwie – White überläßt es den Lesern, das zu spüren – hat Genet diesen Zwiespalt nicht verkraftet. Einerseits kannte er „tout Paris“, und „tout Paris“ kannte ihn, andererseits ließ er (fast) jeden seiner berühmten „Freunde“ irgendwann wieder fallen. Genet konnte exzentrisch und verführerisch, ja kindlich sein (bei seinem ersten Verleger Marc Barbezat und dessen Frau Olga stieg er morgens ins Bett und las ihnen vor, was er über Nacht geschrieben hatte), dann wieder eiskalt und ungeschickt.

„Nachdem Genet die „Sartre- Familie“ kennengelernt hatte und von ihr umworben wurde, ließ sein Interesse an Cocteau und seiner ultraschicken Clique, der Jean Marais und Coco Chanel angehörten, nach. Sartre seinerseits wurde durch den Schweizer Bildhauer Alberto Giacometti ersetzt. In Chicago, 1969, trieb Genet sich mit den Beatniks Allen Ginsburg und William S. Burroughs herum, er freundete sich in dieser Zeit mit Jacques Derrida an, und bei Foucault tauchte Genet unangemeldet auf, um zu schwatzen ... Alle diese Leute verehrten Genets Werk.

Geliebt aber hat Genet nur Männer, die sein Werk nicht oder kaum kannten. Seine Lebensgefährten, die er mit der Fürsorge und Tyrannei eines cholerischen Vaters umsorgte, waren grundsätzlich unbekannte junge Männer aus niedrigen bis niedrigsten Schichten: ein französischer Handwerker (der heiratete), ein arabischer Seiltänzer (der sich umbrachte), ein italienischer Stricher (der ihm davonlief), ein marokkanischer Penner (der wenige Wochen nach Genets Tod gegen einen Baum fuhr und starb).

Trotz seiner schwankenden Kreativität, unter der er offen litt, war Genet erstaunlich gefeit – nicht gegen Lob und Zuneigung, aber gegen Denkrichtungen und Stile. Ausflüge ins Plagiatentum sind seinem Werk ebenso fremd wie Pastiches: mimetisch nicht verführbar.

Mit Urteilen diesbezüglich hält White sich erfreulich wenig zurück. Genets Romane verehrt er, dessen Gedichte hält er – wie die Briefe – für minderwertig, Genets Theaterstücke schätzt er, die künstlerischen und politischen Essays verwundern oder verzücken ihn. Das unterscheidet White von Genets erstem Biographen, Jean- Bernard Moraly („La vie écrite“, 1988), der zwar versucht hat, Genets Belesenheit gegen die Legende des Verbrechers zu verteidigen, letztlich aber schwärmerisch und ergeben bleibt. White dagegen (der Moraly gelegentlich höflich zitiert) verfügt nicht nur in bezug auf Genet über ein überzeugendes literarisches Urteilsvermögen. Über Marcel Proust – den White liebt und häufig mit Genet vergleicht – urteilt er erstaunlicherweise, dieser habe unerträgliche Briefe geschrieben, weil er ehrliche Gefühle nicht beschreiben konnte: genau wie Genet.

Wirklich: Ehrlichkeit war Genets Sache nicht. Die liebenswürdige Seite seines Lügengesichts zeigt einen Schelm, die unerträgliche den Verräter. White gelingt es nachzuweisen, daß auch Genets politischer Aktivismus von diesem Doppelgesicht gezeichnet ist: „Sobald ein Ort zerstört war, wurde er für Genet ein geeignetes Objekt.“

Genets erster explizit „politischer“ Text, erschienen 1968 im Nouvel Observateur, verteidigt den Pariser Studentenführer Daniel Cohn-Bendit: „Dank ihm kennt jeder Reisende, der durch Paris fährt, die Anmut und Eleganz einer Stadt, die revoltiert. Die Autos, die ihr Fett bilden, sind verschwunden, Paris wird endlich eine magere Stadt, es verliert ein paar Kilo.“

Das ist kein Engagement im Sartreschen Sinn, sondern eine abgehobene Sicht, komponiert aus Aggressivität und Ästhetisierung. Genets politische Begehrensobjekte waren: die Black Panthers in den USA, als kurzes Intermezzo die deutsche RAF (was ihm den Vorwurf des „roten Faschismus“ einbrachte) und schließlich, bis zu seinem Lebensende und mit unerbittlicher Hingabe, die Palästinenser der PLO.

Aus zwei Gründen darf Genets Parteinahme für bestimmte – linke, revolutionäre – Gruppierungen nicht mit der anderer französischer Intellektueller in eins gesetzt werden: Erstens, weil er kein Intellektueller dieses gehaßten Landes sein wollte), zweitens, weil seine politische Ästhetik auf einem schizophrenen Prinzip fußt, das eine realpolitische Umsetzung ausschließt. Dieses Prinzip lautet: Unterdrückung der Schwachen durch die Mächtigen (im Gefängnis, im Kolonialismus, im Kapitalismus, im Krieg) ist grausam und muß angeprangert werden, bringt aber erotische und poetische Situationen hervor. Und um diese Situationen ging es Genet. White: „Genet weiß eine Sonde in die politisch schmerzempfindlichste Zone einzuführen, ohne ein Heilmittel oder eine Behandling vorzuschlagen.“ Deshalb auch war Genet paradoxerweise einer Reformierung des Strafsystems (dessen Opfer er selbst war) immer feindlich gesinnt. Und deshalb verkündet er: „An dem Tag, an dem die Palästinenser eine Nation wie eine andere werden, werde ich nicht mehr dort sein.“

Obwohl Genet der „Homer“ der Palästinenser zu sein wünschte, vergleicht White – ebenso kühn wie gewitzt – dessen letztes Buch mit der Bibel: „Wie die Bibel handelt ,Ein verliebter Gefangener‘ von auserwählten Völkern (Black Panthers, Palästinenser) ohne Heimat. Wie die Bibel ist Genets Buch eine Aufforderung zur Exegese. Wie die Bibel ist es ein Buch der Erinnerung, der Namen.“

Seit 1978 wußte Genet, daß er Kehlkopfkrebs hatte – kein Grund für ihn, die allabendliche Einnahme starker Schlaftabletten und das Rauchen aufzugeben. Er starb in einem Pariser Hotel in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1986. Seine „Bibel“, 500 Seiten dick, erschien wenige Wochen später. Den subtilsten Kommentar haben wohl die Totengräber im marokkanischen Larache abgegeben. Sie wußten nicht, wie man einen Christen begräbt, also richteten sie Genets Grab nach Mekka aus.

Edmund White: „Jean Genet“. Biographie. Mit einer Zeittafel von Albert Dichy. Aus dem Amerikanischen von Benjamin Schwarz. 878 Seiten, geb., Kindler Verlag,

64 DM

Albert Dichy und Pascal Fouché: „Jean Genet, Versuch einer Chronologie 1910-1944“. Aus dem Französischen von Rolf Stürmer. 350 Seiten, brosch., Merlin Verlag, Gifkendorf 1993, 48 DM