Theaterstück „Vor dem Fest“ in Hamburg: Abgesang auf das analoge Leben

Regisseurin Charlotte Sprenger bastelt am Thalia Theater aus dem Roman „Vor dem Fest“ des in Hamburg lebenden Autors Saša Stanišić etwas Mächenhaftes.

Schauspieler in goldenen Ganzkörpergewändern.

Durchs Dorf prozessierende Kirchenglocken: „Vor dem Fest“ im Hamburger Thalia Theater Foto: Krafft Angerer

HAMBURG taz | Ein zarter Raum, von Tüchern markiert. Auf einem Ruderboot kauern sechs wehmütige Gestalten, bekleidet aus der Restekiste einer Kostümversteigerung, und summen sich a cappella in eine Melodie hinein. Das Lamento zum Tod ihres Fährmannes erklingt. Sie erheben fortan ihre Stimme im Chor der Dorfgemeinschaft Fürstenfeld, frei erfunden nach dem realen Vorbild der 800-Seelengemeinde Fürstenwerder im letzten uckermärkischen Winkel vor der polnischen Grenze.

Dort recherchierte der in Hamburg lebende Autor Saša Stanišić für seinen jetzt am Hamburger Thalia Theater dramatisierten Roman „Vor dem Fest“. Dieser Roman definiert den Miniaturkosmos aus menschlichen, historischen, landschaftlichen, mythologischen und sogar geologischen Verstrickungen, welche Traditionen und Tätigkeiten, Lügen und Leichen im Keller den Alltag bestimmen.

Für die immer etwas traurig um Hoffnung ringende Kollektivstimme erfand Stanišić einen umgangssprachlichen Kunstdialekt. „Wir hören die Alten vereinsamen. Sehen den Jungen beim Schmieden zu von keinem Plan. Oder vom Plan, wegzugehen“, so die lakonische Beschreibung des Alltags, die in der resignativen Feststellung mündet: „Es gehen mehr tot als geboren werden.“

Immer wieder erheben sich Solostimmen aus der Gemeinschaft. Etwa Herr Ditzsche (Tilo Werner), einst Postbote und Briefgeheimnisverletzer für die Stasi, nun züchtet er Rassehühner und verdingt sich als Eierverkäufer.

Auch wundervolle Duette lösen sich aus dem Klangkörper. Beispielsweise Anna (Birte Schnöink), die sich nach Rostock sehnt und mal studieren möchte, nun aber erst mal Rentner Schramm (André Szymanski) dazu bringt, vor dem Selbstmord noch eine zu rauchen, sodass er später sogar mit einer Partnervermittlerin den Fragebogen über die „Dame des Herzens“ beantwortet. Zum vielstimmigen Durcheinander treffen sich die prototypisch hergerichteten Figuren in Ullis Garage, „weil nirgends sonst Sitzgelegenheiten und Lügen und ein Kühlschrank so zusammenkommen, dass es für die Männer miteinander und mit Alkohol schön und gleichzeitig nicht zu schön ist“.

Hinreißend ist Oda Thormeyer als lässig verlockender Zigarettenautomat, der zu Frau Schmermuth mutiert

Einerseits ist dieser Heimatroman dank der chorischen Erzählerstimme eine prima Theatervorlage, wurde doch schon auf Bühnen der Antike so gespielt. Zudem wahrt Stanišić im Sinne Aristoteles die Einheit von Ort und Zeit, indem er das Geschehen am Abend vor dem großen Annenfest bündelt, dessen Anlass allerdings keiner mehr so recht kennt. Andererseits ist es natürlich unmöglich, die auf 320 Seiten komplex ineinander verschachtelte, tief bohrende, Zeiten durcheinanderwirbelnde und poetisch wieder verdichtete Narration auf die Bühne zu übertragen.

Also bastelte Regisseurin Charlotte Sprenger, Tochter der Thalia-Granden Victoria Trauttmansdorff und Wolf-Dietrich Sprenger, für die erste Arbeit in ihrer Heimatstadt eine Readers-Digest-Fassung. Stanišić’ Fabulierlust wurde gebremst und seine stilistische Vielfalt zurückgenommen. Biografien sind nur noch angedeutet, ihre Verbindungen zu all den sagenhaften Überlieferungen ebenso gestrichen wie die Folgen der zwei vor Ort erlebten Diktaturen.

Sprenger versucht gar nicht erst, die politische Dimension von Landflucht, Arbeitslosigkeit, Altersarmut, Rechtsruck zu entwickeln, sondern erzeugt vor allem eine Atmosphäre der Ost-Provinz – jenseits des Klischees nazidumpfer Hartz-IV-Ödnis. Episoden werden zu einem übersichtlichen Panoptikum arrangiert – in der sympathisierenden Haltung und mit der schelmischen Komik des Autors.

Das Theaterlicht wärmt die Figuren, Nebel verschleiert Szenenbrüche, Musik lädt zum Hineinkuscheln ins Geschehen ein. Märchenhaft ist der Inszenierungsduktus, entsprechende Motive werden betont. Und zumindest ein Problemfall wird nicht verschwiegen. Eine Malerin, Frau Kranz, verewigt Sehenswürdigkeiten des Orts wie die „Sparkasse im Sonnenuntergang“ und porträtiert die Bewohner in idyllischen Settings, beispielsweise den Rico in ihrem Werk „Der Neonazi schläft“.

Sa, 23. Februar, 20 Uhr und Di, 26 Februar, 20 Uhr, alle ausverkauft, evtl. Restkarten an der Abendkasse

Mi, 13. März, 20 Uhr, und Do, 4, April, 20 Uhr

Das Ensemble schlüpft im fliegenden Rollenwechsel in all die knuffigen Typen, nutzt zudem das absurde Potenzial der Vorlage, indem auch durchs Dorf prozessierende Kirchenglocken gespielt werden und eine Fähe (Marie Löcker), die zur Auswilderungsparty ihres Nachwuchses den Diebstahl der Rassehühnereier Ditzsches plant.

Hinreißend ist Oda Thormeyer als lässig verlockender Zigarettenautomat, der gleich darauf zu Frau Schmermuth mutiert. Die altjüngferliche Matrone ist Leiterin des Hauses der Heimat, gut bestückt mit Andenkentüdel für nie erscheinende Touristen und Aktenordnern voller lokaler Anekdoten.

Im elegischen Tempo gestaltet Regisseurin Charlotte Sprenger einen Abend als melancholischen Abgesang auf die letzten Oasen analogen Lebens in unserer globalisierten Republik. Je nutzloser die Menschen sich dort fühlen, desto stärker ringen sie um Heimatgefühle. Ein höchst aktueller Stoff.

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