Terror in der Türkei: Die Achillesferse der Regierung

Während die Manipulationen im Falle des Anschlags von Ankara weiter gehen, wollen Anwälte und Geschädigte nur eins: Gerechtigkeit.

Ankara, kurz nach dem Anschlag am 10. Oktober 2015 Foto: dpa

Am 10. Oktober 2015 jagen sich zwei Selbstmordattentäter auf einer Friedenskundgebung von Gewerkschaften und linken Parteien vor dem Hauptbahnhof in Ankara in die Luft. 101 Menschen sterben, über 400 Menschen werden verletzt. Die türkische Regierung macht für den Anschlag den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) verantwortlich, der sich bis dato jedoch nicht dazu bekennt.

    „Ankara“ ist viel mehr als nur ein Massaker. Es ist das Resultat einer uneindeutigen Syrien-Politik der türkischen Regierung und das Profil einer Türkei, in der sich der „IS“ eingenistet hat. Ohne Zweifel wird bei diesen Verhandlungen auch die Frage eine Rolle spielen, was sich in Bezug auf das Vorgehen der Türkei gegen den „IS“ bisher geändert hat.

    Am 2. Mai wird zum dritten Mal der Prozess gegen die mutmaßlichen Täter aufgenommen und an drei aufeinander folgenden Tagen verhandelt.

    taz.gazete fasst hier die Ereignisse im Vorfeld des Anschlags in neun Punkten zusammen:

    1 – Die Explosionen vor dem Hauptbahnhof in Ankara sind als der verheerendste Terroranschlag in die Geschichte der Türkei eingegangen. Um 10:04 Uhr zündeten zwei Selbstmordattentäter nacheinander ihre Sprengsätze. Einer der Täter war gemäß diverser übereinstimmender Quellen, syrischer Staatsbürger. Seine genaue Identität ist bis heute unbekannt. Der andere Täter war Yunus Emre Alagöz, Bruder des Selbstmordattentäters Şeyh Abdurrahman Alagöz, der nur wenige Monate zuvor am 20. Juli 2015 bei einem ähnlichen Anschlag in Suruç 34 Menschen getötet hatte.

    2- Nach dem Anschlag in Suruç warnten zivilgesellschaftliche Organisationen, sowie politische Parteien die Regierung und den türkischen Geheimdienst vor einer weitreichenden Organisierung des „IS“ und der Möglichkeit zukünftiger Anschläge. Allerdings wurden diese Bedenken außer Acht gelassen. Etwa bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015, die an Erdoğans Macht rüttelten. Die AKP hatte ihre Chance auf eine Mehrheitsregierung verwirkt und der Weg zu einer Präsidentschaft Erdoğans schien verbaut. Den Türk*innen wurden verfrühte Neuwahlen aufgezwungen.

    3- Dass die Regierung nicht die absolute Mehrheit erlangt hatte, wurde von den Parteisprechern als der „Beginn des totalen Chaos“ deklariert. Der Bevölkerung wurde angedroht einen „hohen Preis“ dafür zu bezahlen, wenn sie bei den Neuwahlen nicht „die richtige Entscheidung“ treffen würde. Die Regierung hielt Wort. Zwischen dem 7. Juni und 1. November 2015 – also zwischen den beiden Wahlen – entstand ein Klima des Chaos. Mehr noch wurde ein Kultur des Zwiespalts und der Konflikte etabliert. In dieser Zeit aktivierte sich der „IS“ seine Attentäter. In Vorfeld der Neuwahlen ließen Erdoğan und sein „Palast“ mehrere Meinungsumfragen durchführen, um die Stimmung in der Bevölkerung zu messen. Der damalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu äußerte in Bezug auf den Verlust von 101 Menschen einen unsäglichen Satz: „Kurz nach der Explosion ließen wir eine Umfrage durchführen, mit dem Ergebnis, dass unsere Stimmen gestiegen sind.“

    4- Könnte es sein, dass der Staat, der Geheimdienst und die Regierung einen Anschlag vorgetäuscht haben? Zumindest aber wurde über die „IS“-Mörder und weitere Anschläge hinweg gesehen. Die Details sind zermürbend. Der „IS“ hatte aufgrund seiner kosmopolitischen Struktur und seiner Nähe zur Grenze die Stadt Gaziantep (an der syrischen Grenze im Südosten der Türkei, Anm.d.Red) zu seinem Sitz erkoren. Obwohl die Organisatoren der beiden Anschläge, Yunus Durmaz und Halil Ibrahim Durgun, unter geheimdienstlicher Beobachtung standen, kam es zu den Anschlägen.

    5- Die syrisch-türkische Grenze war zu dieser Zeit löchrig wie ein Sieb. „IS“-Mitglieder konnten ohne Probleme die Grenze passieren. Der Zusammenhang zwischen den Anschlägen und der Aussage des damaligen Premiers Davutoğlu über die gestiegenen Umfragewerte nach der Explosion sind besorgniserregend. Unbestritten ist, dass die Anschlagsplaner sich von Syrien aus in Ruhe organisieren und den Sprengstoff ohne Mühe von Gaziantep nach Ankara transportieren konnten.

    6 – Die Fahrzeuge, in denen die Attentäter und der Sprengstoff unterwegs waren,gerieten auf dem Weg von Gaziantep nach Ankara in eine Sicherheitskontrolle. Trotzdem gelang ihnen die Ankunft am Zielort. Seltsam, dass am Tag des Anschlags am Demonstrationsort kaum Polizei präsent war. Am gleichen Tag gingen auf der Polizeiwache 62 Geheimdienstnachrichten eingegangen. Diese Berichte wurden nie ausgewertet, genauso wenig wurde der Bericht über die Demonstration dem Organisationskomitee der Kundgebung zugänglich gemacht. Die Tatsache, dass bei diesen Geheimdienstnachrichten die Identität des türkeistämmigen Täters bekannt war, verhärtet die Annahme, dass der Weg für den Anschlag geebnet wurde.

    7- Wenige Minuten nach den beiden Explosionen war die zuvor kaum vorhandene Polizeipräsenz verstärkt am Tatort. Menschen, die bereits auf dem Boden lagen, wurden getreten. Sicherheitsfahrzeuge fuhren über tote Körper. Verletzte wurden mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Gummigeschossen angegriffen. Die Zeugenaussagen sind erschreckend: Es gab Polizisten, die gelacht haben sollen. Rettungswagen sind ewig nicht vor Ort gewesen. Allerdings wurde landesweit eine Nachrichtensperre verhängt und das Internet blockiert. Alles, was sich auf diesem Platz ereignet hat, wurde dokumentiert, allerdings hat bisher keiner der zuständigen Beamten, der involviert in die Ereigniskette oder anwesend am Tatort war, vor Gericht ausgesagt.

    8- Von Anfang an wurden Journalisten, die Verbindungen zwischen der türkischen Regierung und dem „IS“ dokumentierten, verhaftet und angeklagt. Leider sind auch Überlebende des Anschlags Anschuldigungen „Mitglieder einer Terrororganisation“ zu sein, ausgesetzt. Die Spekulationen nehmen kein Ende. Yunus Durmaz, vermeintlicher Organisator des Anschlags in Suruç und Schlüsselfigur des „IS“, auch bekannt als der „Befehlsgeber von Gaziantep“ sprengte sich bei einer Polizeioperation am 19. Mai 2016 in Gaziantep in die Luft. Sicherheitskräfte erklärten, dass auch der Planer des Anschlags in Ankara, Halil Ibrahim Durgun, sich während eines Polizeieinsatzes in Gaziantep am 14. November 2015, also einen Monat nach dem Anschlag in Ankara, in die Luft gesprengt hatte. Ein weiterer Name in der Gaziantep-Organisation des „IS“ lautet Mehmet Kadir Cebael. Er hatte den Anschlag auf eine kurdische Hochzeit in einem alevitischen Kulturzentrum in Gaziantep geplant, bei dem am 20. August 2015 mehr als 50 Menschen getötet wurden. Auch er wurde bei einem Polizeieinsatz am 16. November 2016 nicht lebend gefasst.

    9- Die Namen der Verdächtigen geraten nach und nach in Vergessenheit. Die Autopsieberichte der beiden Verdächtigen, des „Emir von Gaziantep“, Yunus Durmaz und Mehmet Kadir Cebael, sind für die Verteidiger nicht zugänglich. Die Polizei hat sie mit der Begründung, die Berichte würden auch ihnen nicht vorliegen, nicht dem Gericht zukommen lassen. Kurzum, der Anschlag von Ankara ist die Achillesferse in den Beziehungen zwischen Staat, Regierung und Geheimdienst.

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    1972 geborener Journalist. Nach Tätigkeiten für die Tageszeitungen Milliyet, Sabah und Cumhuriyet begann er als Reporter für die 'Zeitung Birgün zu arbeiten, wo er noch heute tätig ist. Acarer gewann 2016 den renommierten Metin Göktepe Journalistenpreis und 2017 den Preis für unabhängige Journalisten.

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