Syrische Flüchtlinge in Deutschland: Hauptsache, Sicherheit

„Keine Politik“, hat Omar Hashim Nowir vor dem Gespräch gesagt. Er will mit seiner Familie in Deutschland neu anfangen. Was sie erwartet, wissen sie nicht.

Seit dem 24. Januar 2012 auf der Flucht: Familie Nowir. Die 18-jährige Salem wollte nicht mit aufs Bild. Bild: Gabriela Keller

FRIEDLAND taz | Sie haben nicht viel mitnehmen können aus ihrem alten Leben. Nur das, was in die fünf Koffer gepasst hat, die nun in der Ecke dieses kargen Raumes stehen. Daneben sitzt ein Mädchen mit ihrer Familie an einem Holztisch beisammen; es knetet seine Finger und versucht, die Gedanken an die Heimat in Syrien beiseitezuschieben. „Hauptsache, wir sind in Sicherheit“, sagt sie, „alles andere ist nicht wichtig.“ Ihr Name ist Salam. Frieden.

Die Vorhänge sind zugezogen, obwohl es erst früh am Nachmittag ist. An der Decke Neonlicht, am Fenster zwei Etagenbetten, Linoleum auf dem Boden. Seit über einer Woche lebt die Familie nun hier. Grenzdurchgangslager Friedland, westlicher Lagerteil, Gebäude 41.

Der Vater, Omar Hashem Nowir, 49 Jahre alt, ernst und schweigsam, von Beruf Automechaniker. Neben ihm sitzen Amal Naef Dalloul, 34, eine lebhafte Frau in schwarzen Schleiern, und ihre zwei Töchter. Nour ist 16, Salam 18. Sie tragen gemusterte Kopftücher mit Strassperlen und haben dieselben fein geschnittenen Gesichtszüge wie ihre Mutter. Die vier jüngeren Geschwister sind draußen und spielen.

„Wir hatten in Syrien ein schönes großes Haus“, sagt die Mutter, „aber es ist nicht viel davon übrig.“ Einige Zimmer sind ausgebrannt, die Wände voll Schusslöcher. Ihr Mann macht eine wegwerfende Handbewegung. „Das Haus ist weg – egal“, sagt er.

Die Familie stammt aus Hama. Die 300.000-Einwohner-Stadt in Westsyrien zählte seit Beginn des Konflikts im Frühjahr 2011 zu den Zentren des Aufstands gegen Assads Regime. Seither ist dort Krieg. „Einer meiner Cousins wurde von einem Scharfschützen erschossen“, sagt Dalloul. Und erst neulich hat einer ihrer Neffen eine Hand verloren, getroffen von Schrapnells.

Ein großer Clan

Wenn man sie fragt, wann sie ihre Heimat verlassen hat, muss sie keinen Augenblick überlegen. Es war der 24. Januar 2012. Inzwischen sind rund zwei Millionen Menschen aus Syrien geflohen. 700.000 haben sich allein in den Libanon gerettet, auch die Familie Nowir. Die Bundesregierung hat sich entschlossen, 5.000 von ihnen aufzunehmen. Die erste Gruppe mit 107 Personen ist am elften September von Beirut nach Hannover geflogen. Dann hat man sie in Bussen nach Friedland südlich von Göttingen gebracht. Omar Hashem Nowir hat bislang nicht viel von Deutschland gesehen, nur rund 130 Kilometer Autobahn und das 6,5 Hektar große Gelände, die Baracken, ringsum stille Dorfstraßen, Bäume, Einfamilienhäuser.

„Die Landschaft hier ist so schön. Alles ist grün“, sagt er. „Das Wetter ist ganz okay“, sagt Salam. „Mir gefällt es, wenn’s kühl ist“, meint Nour. Aber die vier wirken blass und abgekämpft. Der Vater sitzt mit zurückgelehntem Oberkörper auf seinem Stuhl, die Arme vor der Brust verschränkt. „Keine Politik“, hat er vor dem Gespräch gesagt. Das war seine Bedingung.

Er will den Konflikt nun hinter sich lassen, wie sein Heimatland. In Hama konnte die Familie nicht bleiben, weil die Geheimdienste nach ihm fahndeten. Nowir gehört einem großen Clan in Hama an. Er sagt, dass er nur verfolgt wurde, weil einige seiner Verwandten politisch aktiv sind. Aber wer ihm zuhört, spürt, dass es vieles gibt, was er verschweigt.

Jetzt wird er noch einmal ganz von vorne anfangen müssen. Er zuckt die Schultern, „das bin ich gewöhnt“. Nowir ist aufgewachsen in einer Stadt, wo es in den 60er und 70er Jahren schon einmal zu Unruhen kam. Hama galt auch damals als Hochburg der Opposition, vor allem der Muslimbrüder. Nowirs Familie stand der Bewegung nahe. Er erinnert sich, wie er bereits als 14-Jähriger Brot an die Front schmuggelte. Als sich die Muslimbrüder 1982 gegen das Regime erhoben, ließ der damalige Präsident Hafis al-Assad Hama bombardieren. Bis zu 20.000 Menschen kamen in diesen Tagen ums Leben.

Nowir flüchtete nach Jordanien ins Exil. Später heiratete er seine Cousine. Amal Naef Dalloul pendelte zwischen Hama und Amman. Erst 2009 war es für ihren Mann sicher genug zurückzukehren. Er hatte gedacht, dass er nun, endlich, mit seiner Familie in seiner Heimat leben kann. Nur zwei Jahre später brach die Gewalt erneut über Hama herein.

Unbekanntes Thüringen

Seit drei Tagen besuchen er, seine Frau und seine Kinder in Friedland Kurse, die ihnen helfen sollen, sich einzugewöhnen. Vormittags gibt es Sprachunterricht, nachmittags Landeskunde. Sie haben gelernt, dass sie eine Krankenversicherung abschließen, im Notfall 112 wählen und bei Rot an der Ampel halten müssen. Nowir wundert sich etwas, wie genau das Leben in Deutschland von Regeln bestimmt ist. Es stört ihn nicht, im Gegenteil. „Ich mag Ordnung. So ein Chaos wie in Syrien, das gefällt mir nicht.“

Mitte dieser Woche geht es für die Familie schon wieder weiter. Dann werden die syrischen Flüchtlinge auf die Bundesländer verteilt. Familie Nowir kommt nach Thüringen. Nour und Salam haben auf einer Karte nachgeschaut, wo das überhaupt liegt. „Wie es da ist – keine Ahnung“, sagt Nour. Sie fragen sich dieser Tage häufiger, ob ihre Pläne einmal aufgehen werden. Beide wollen Ärztin werden, Nour Allgemeinmedizinerin, Salam Gynäkologin. „Ich habe Angst wegen der Sprache“, sagt Salam. „Wir wissen nicht, was auf uns zukommt“, sagt Nour. „Ich mache mir Sorgen, dass ich das Abitur nicht schaffen werde.“

Die 5.000 Syrer haben bessere Startbedingungen als die meisten anderen Flüchtlinge. Sie werden nicht in Heimen untergebracht, sondern in Wohnungen, dürfen sofort arbeiten und haben Anspruch auf Sozialhilfe. Allerdings gilt ihre Aufenthaltserlaubnis nur zwei Jahre lang.

Das Innenministerium hat sie mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) ausgewählt, darunter vor allem schutzbedürftige Leute, Frauen, Kinder, Kranke, aber auch gut Ausgebildete, die künftig beim Wiederaufbau Syriens eine Rolle spielen dürften.

„Mir geht es super“

Am Morgen fällt Nieselregen auf das Lager; ein kalter Wind fährt durch die Gassen zwischen den weiß getünchten Flachbauten. In Gebäude 47 hat der Unterricht begonnen. Etwa zehn Leute haben sich an den U-förmig aufgestellten Pulten verteilt; Nour und Salem sitzen ganz vorne, ihr Vater ist weiter hinten. Die Mutter liegt mit Kopfschmerzen im Zimmer; es war alles ein bisschen viel in den letzten Tagen.

Die Lehrerin schreibt mit Filzstift an die Plastiktafel. „Ich bin. Du bist. Er, sie, es ist.“ Nour und Salam machen sich Notizen; die Lehrerin schaut ihnen über die Schulter. Noch am Vortag hatten sich die Mädchen die deutschen Vokabeln in arabischer Schrift aufgeschrieben. Das sollen sie aber nicht. „Machen wir doch gar nicht mehr!“, ruft Nour empört.

Am Ende der Stunde sollen sie kurze Dialoge üben. Die Lehrerin reicht Nour einen roten Ball; sie und eine Frau gegenüber werfen ihn hin und her. Die Mitschülerin fragt, Nour antwortet.

– „Woher kommen Sie?“

– „Ich komme aus Syrien.“

– „Wie geht es Ihnen?“

– „Mir geht es super.“

– „Wo wohnen Sie?“

– „Ich wohne in Friedland“, sagt Nour, „Thüringen“, korrigiert Salam; die beiden lachen.

Omar Hashem Nowir ist stolz auf seine zwei intelligenten Mädchen. „Die sind sehr fleißig“, sagt er. Für ihn ist nun das Wichtigste, dass die Kinder möglichst bald in die Schule gehen können. Nour, Salam, Fatma, Hamza, Abdallah, und die jüngste, Rama. Die Siebenjährige ist geistig behindert.

Nowir, seine Frau, die Mädchen wirken, als sei das alles noch nicht wirklich zu ihnen durchgedrungen, die weite Reise, die Ankunft in Deutschland. Es ist nicht leicht, zur Ruhe zu finden an diesem Ort, der nur eine Wartestation ist zwischen ihrem alten Leben und ihrem neuen.

Das Lager in Friedland wurde 1945 von der britischen Besatzungsmacht eingerichtet, zunächst, um Vertriebene aufzunehmen. Dann kamen heimkehrende Kriegsgefangene, DDR-Übersiedler, Spätaussiedler. Später Flüchtlinge aus Chile, Sri Lanka, Albanien. Und nun die Syrer.

Retter im letzten Moment

Amal Naef Dalloul ist die tiefen Schrecken der vergangenen Monate noch nicht wieder losgeworden. Während ihr Mann schweigend neben ihr sitzt, sprudeln die Sätze nur so aus ihr heraus. Einmal ist sie noch zurückgekehrt nach Syrien, nur um zu Hause nach dem Rechten zu sehen. Das war im Sommer 2012. Ihre beiden ältesten Töchter nahm sie mit; ihr Mann blieb im Libanon; er wurde ja gesucht.

Sie war mit den Mädchen allein, als Sicherheitskräfte in ihr Haus eindrangen. „Sie packten Nour und versuchten, sie in ein Zimmer in der oberen Etage zu zerren“, sagt sie heiser. Berichten zufolge hat die Zahl der Vergewaltigungen im Laufe des Krieges in Syrien drastisch zugenommen. Aber Nour hatte Glück. Eine Gruppe von Männern aus der Nachbarschaft kam den Frauen zu Hilfe. Letztlich ließen die Sicherheitskräfte von ihnen ab.

Nun ist der Krieg mehr als 2.500 Kilometer weit weg. Doch die Mädchen sind oft traurig. „Am meisten vermisse ich den Rest unserer Familie“, sagt Salam. In Hama hatten sie Dutzende Cousins und Cousinen. Jetzt sind sie noch zu acht. Ihr Vater schnalzt mit der Zunge. „Alle Erinnerungen liegen jetzt hinter uns. Sie spielen keine Rolle mehr.“ Er will nur noch nach vorn schauen und sich auf all die Dinge konzentrieren, die jetzt zu erledigen sind.

Als Erstes wird er seine Kinder in der Schule anmelden. Nour braucht dringend einen Termin beim Kieferorthopäden; sie hat eine Zahnspange im Mund, die seit zwei Jahren nicht kontrolliert worden ist. Omar Hashem Nowir und Amal Naef Dalloul werden Integrationskurse machen. „Ich bin sicher, wir werden uns in Deutschland zu Hause fühlen können“, sagt er. „Auf jeden Fall“, sagt seine Frau. Die zwei Mädchen nicken.

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