Suizid-Krise in Nordindien: Der Preis der Pestizide

Das einst wohlhabende Punjab wird von einer sozialen Tragödie heimgesucht: Von Schulden erdrückt, nehmen sich jährlich Tausende Bauern das Leben.

Harpeet Kaur mit einem Bild ihres Mannes.

Harpeet Kaur mit einem Bild ihres Mannes und ihren Schwiegereltern Foto: Foto: Fabian Kretschmer

PUNJAB taz | Der Tag, der Harpeet Kaurs Leben für immer ver­ändern sollte, begann mit einem rauschenden Fest: Während die heute 26-Jährige die Hochzeit ihres Bruders besuchte, versprach ihr Mann Raj, sich um den Haushalt und die Landwirtschaft zu kümmern. Stattdessen jedoch entdeckte ein Nachbar in den frühen Abendstunden den Körper des 32-jährigen Bauern leblos vom Dachbalken hängen. Raj Singh hatte am 10. November 2018 seinem Leben ein Ende gesetzt – genau wie sein älterer Bruder ein paar Jahre zuvor.

Wenige Wochen später sitzt Harpeet auf einem indischen Tagesbett im Innenhof, die Schwiegermutter reicht gezuckerten Milchtee, der Vater lauscht stumm der Unterhaltung. Jenes unverputzte Familienhaus im Dorf Balran, in dem ihr Mann sich erhängte, sagt Harpeet, sollte das Familienglück mit den zwei Kindern vollenden.

Stattdessen jedoch setzte der dafür aufgenommene Kredit einen Teufelskreis in Gang: Pfandleiher suchten regelmäßig die Familie heim, forderten Wucherzinsen, die Schulden wuchsen schließlich auf umgerechnet fast zehntausend Euro an. Als Lebensgrundlage dienten der Familie nur wenige Morgen Land zum Reis- und Weizenanbau sowie ein Büffel und zwei Kälber zur Milchgewinnung – viel zu wenig, um den Schuldenberg abzuzahlen.

„Ich habe meinem Mann immer gesagt, dass wir eine Lösung finden werden. Aber am Ende hat er nicht mehr daran geglaubt“, sagt die Witwe.

Tausende Familien betroffen

Was von ihrem Mann bleibt, ist ein golden eingerahmtes Porträt des Verstorbenen, das sie stolz vorzeigt. „Mein Sohn sieht genauso aus wie sein Vater. Vom Temperament her kommt ihm allerdings meine Tochter gleich“, sagt Harpeet. Die Zukunft der beiden Kinder sei ungewiss: Das Land habe die Familie mittlerweile verpachtet, die Einnahmen reichen kaum fürs Schulgeld.

Harpeets Tragödie wird im ländlichen Punjab von Abertausenden Familien in nur leicht voneinander abweichenden Varianten erzählt: Es ist ein von den Regierungsbehörden in Delhi unzureichend dokumentierter Fakt, dass weite Teile des nordwestlichen Bundeslands von einer grausamen Suizidwelle erfasst werden.

Dabei zählte der Punjab zu Zeiten der Unabhängigkeitserklärung Indiens im August 1947 nicht nur zu den wohlhabendsten Bundesstaaten mit einer hochgebildeten Bevölkerung, sondern galt auch als Getreidekammer des gesamten Subkontinents. Endlose Ebenen in saftigem Grün prägen die Landschaft. Wenn man jedoch den Geschichten der einfachen Bauern zuhört, dann sind von jenen goldenen Zeiten nur mehr blasse Erinnerungen übrig.

Inderjit Singh Jaijee, ein stolzer Sikh mit schwarzem Turban und grauem Vollbart, kämpft seit den 1980er Jahren dafür, den Anliegen der Landbevölkerung in Punjab eine Stimme zu verleihen. Damals gab der heute 90-Jährige seine gut bezahlte Marketingstelle bei einem britischen Ölkonzern auf, um die Gräueltaten der blutigen Aufstände jener Zeit nachzuweisen.

Operation Blue Star

Aufgrund der Grenze zu Pakistan baute die Zentralregierung in Delhi über Jahrzehnte keine Schwerindustrie im Krisenstaat Punjab auf. Eine ganze Generation an hochgebildeten, aber arbeitslosen Sikhs begann sich zu radikalisieren. Einige von ihnen forderten schließlich einen autonomen Staat für die religiöse Minderheit.

Im Juni 1984 stürmte dann die indische Armee den Goldenen Tempel im Amritsar, um einen militanten Sikh-Führer zu verhaften. Bei der sogenannten Operation Blue Star massakrierte das Militär mehrere Hundert Sikhs. Wenige Monate später rächten sich zwei Attentäter mit dem Mord an der damaligen Premier­ministerin Indira Gandhi. Eine jahrelange Gewaltspirale folgte, die Tausende Menschenleben kostete.

In jenen Jahren entdeckte Inderjit Singh Jaijee quasi zufällig eine weitere, kaum beachtete Tragödie: die eskalierende Landwirtschaftskrise im Punjab. In jedem Dorf, das Inderjit mit anthropologischem Interesse besuchte, hatten von Schulden geplagte Familien Suizidfälle zu beklagen. Den Behörden wurden diese jedoch nur in den seltensten Fällen gemeldet: aus Scham, aber auch weil Selbstmord in Indien laut Gesetz nach wie vor als Verbrechen gilt.

In einem lichtdurchfluteten Haus in Chandigarh, der vom Le Corbusier als stadtplanerische Utopie entworfenen Hauptstadt Punjabs, leitet Inderjit Singh Jaijee seine NGO. Auf dem Schreibtisch aus Ebenholz türmen sich Papierstapel, sie enthalten die Steckbriefe der jüngst dokumentierten Todesfälle. „Allein in den letzten zehn Tagen hatten wir drei Suizide – dabei beobachten wir nur 120 Dörfer. Punjab aber besteht aus 12.000 Dörfern“, sagt er. Mit Spendengeldern der religiösen Sikh-Gemeinschaft, von denen viele im kanadischen und US-amerikanischen Exil zu Wohlstand gekommen sind, verteilt er Stipendien an die betroffenen Familien. „Die einzige Bedingung: Sie müssen ihre Kinder zur Schule schicken“, sagt Inderjit. Nur durch Bildung könne der Kreislauf aus Schulden und Suizid durchbrochen werden.

Fatale Grüne Revolution

Zwei Autostunden entfernt, über holprige Straßen und durch ärmliche Dörfer, hat die NGO eine Hochschule aufgebaut. Deren Schulleiterin Gurdheep Kaur, eine ältere Dame mit sanftem Gestus, kümmert sich um 600 Jungs und 400 Mädchen, von denen viele ebenfalls Suizide in ihren Familien erlebt haben. Der Unterricht mit Computerkursen, in Kunst und Mathematik ist dabei nur ein kleiner Hoffnungsschimmer für die unterprivilegierten Jugendlichen.

„Unsere Abbruchquote ist hoch, etwa ein Viertel schließt die Schule nicht ab, weil sie kleine Jobs in der Landwirtschaft übernehmen“, sagt die Schulleiterin Gurdheep Kaur. Die Perspektiven für die Jugend, so gibt sie offen zu, seien dürftig: „Einige wenige bekommen Arbeit bei den Regierungsbehörden, manche schon auch mal in der Privatwirtschaft. Für viele aber bleibt keine andere Möglichkeit, als ins Ausland zu gehen.“

In den 1960er Jahren wollte Indien mit der Grünen Revolution seine rückständige Landwirtschaft modernisieren: Tatsächlich stiegen dank Dünger, effizienter Bewässerung und neuester Maschinen die Ernteerträge beachtlich an.

Doch die Anbaumethoden mit Hochertragssorten forderten schon bald ihren Tribut: Ein immer höher werdender Appetit an Pestiziden und Grundwasser zehrte die durch Monokulturen ausgelaugten Böden aus. Die extreme Abhängigkeit von der Landwirtschaft war einst ein Segen für das fruchtbare Punjab. Längst ist sie jedoch zum Fluch geworden. Die Getreidekammer Indiens kann Teile ihrer eigenen Bevölkerung nicht mehr ernähren.

Rot, grün, blau

Jaswinder Singh sitzt in seinem Pestizidladen im Dorf Andana, in einem Holzregal steht sein Sortiment ordentlich aufgereiht: Flaschen mit roten Gütesie­g­eln, mit gelben, blauen und grünen – sie zeigen die Giftigkeit der Insektenkiller an. „Früher haben sich noch die roten Flaschen am meisten verkauft, die gefährlichsten von allen. Mittlerweile sind es die mit dem grünen Siegel“, sagt der Verkäufer.

Flaschen mit roten Gütesieg­eln, gelben, blauen, grünen – sie zeigen die Giftigkeit der Insektenkiller an

Er glaubt, dass bei den Bauern in der Gegend ein Umdenken eingesetzt hat: Dass zu viel Pestizid die Böden langfristig für den Anbau verdirbt, habe sich längst rumgesprochen. Die Regierung hat Jaswinder Singh schließlich dazu verpflichtet, jedem seiner Kunden vor dem Kauf über die Gefahren der Gifte aufzuklären. Nicht zuletzt auch, weil sie als bevorzugtes Instrument zum Suizid gelten.

Für manche ist das Leid der Bauern längst zum Geschäft geworden. Am Bhakra-Kanal, einem 164 Kilometer langen Flusssystem, haben sich an diesem sonnigen Vormittag einige Jugendliche mit Moped vor einer Schleuse versammelt. Sie suchen nach ihrem seit zwei Tagen verschwundenem Freund. Früher oder später, so befürchten sie, wird das Wasser seinen Körper anspülen.

An der Schleuse steht ein kleines Wartehäuschen, dessen Wände mit Vermisstenanzeigen zugepflastert sind. Nur einen Steinwurf entfernt sitzt Gurbaksh Singh, 27 Jahre, im Hof der lokalen Polizeistation. Bei Keksen und Tee wartet er auf seinen nächsten Einsatz: Seit mehreren Monaten besteht seine Arbeit darin, die angespülten Suizid-Leichen mit einem großen Dreifachhaken aus dem Wasser zu fischen.

Mit Spenden von den Hinterbliebenen verdient Gurbaksh Singh seinen Lebensunterhalt. „Ich sehe dies als gute Tat an, als Dienst an den Leuten“, sagt er. Einer müsse dies schließlich tun, ­außerdem könne er mit der Arbeit seine Familie ernähren.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.