Studie zur Einkommensschere: Tarifflucht führt zu mehr Ungleichheit

Die arbeitgebernahe Bertelsmann-Stiftung hat Ergebnisse einer Studie veröffentlicht. Darin wird aufgezeigt, welche Konsequenzen die Tarifflucht hat.

Oben und unten. Bild: kallejipp/photocase

BERLIN taz | Spitzenverdiener VW-Chef Martin Winterkorn strich 2014 mit 15,6 Millionen Euro 7 Prozent mehr Gehalt ein als im Vorjahr. Kollege Norbert Reithofer von BMW kam immerhin auf 7,2 Millionen Euro, im Jahr seines Amtsantritts 2006 waren es noch 3,8 Millionen. Dagegen bekommen Beschäftigte am Ende der Einkommensskala immer weniger. Nach einer Untersuchung der arbeitgebernahen Bertelsmann-Stiftung hat das Fünftel der Erwerbstätigen mit dem geringsten Einkommen seit den 1990er Jahren inflationsbereinigt Lohneinbußen von 2 Prozent hinnehmen müssen.

Während die Niedriglöhner Abstriche machen mussten, konnte sich das Fünftel mit den höchsten Gehältern im Schnitt über ein Plus von 2,5 Prozent freuen. Die 30 Vorstandsvorsitzenden der im DAX gelisteten Unternehmen verdienten allein 2014 mit im Schnitt 5,3 Millionen Euro 9 Prozent mehr als Vorjahr.

Die Herren werden außertariflich bezahlt. Bei den meisten Beschäftigten führt allerdings gerade das zu Reallohneinbußen. Hauptgrund für die zunehmende Ungleichheit der Einkommen in Deutschland ist nach Auffassung der Bertelsmann-Stiftung die Erosion der klassischen Tarifvertragsarbeitsverhältnisse. Zwischen 1996 und 2013 hat sich in Deutschland der Anteil der Unternehmen, für deren Beschäftigte ein Tarifvertrag verbindlich ist, von 60 Prozent auf 32 Prozent fast halbiert.

ArbeitnehmerInnen mit Tariflohn bekamen 2010 immerhin 19 Prozent mehr als die KollegInnen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lag der Anteil der Beschäftigten mit Tarifvertrag 2010 nur noch bei 55 Prozent. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland unter dem Durchschnitt von 62 Prozent. In Italien und Belgien werden alle Beschäftigten nach Tarif bezahlt, in Estland mit 19 Prozent EU-weit am wenigsten. Neben der fehlenden Tarifbindung ist auch die drastische Ausweitung des Niedriglohnsektors ein Treiber für die steigende Lohnungleichheit in Deutschland, räumt die Studie ein.

Ausbleibende Forderung

Die Bertelsmann-Stiftung fordert als Konsequenz der Studienergebnisse die Unternehmen aber mitnichten auf, den Trend zur Tarifflucht zu stoppen. „Unternehmen machen das ja nicht aus Bosheit“, sagte Thieß Petersen von der Bertelsmann-Stiftung. Sie müssten auf ihre Wettbewerbsfähigkeit achten.

„Die Arbeitgeber sind in der Pflicht, sich entsprechend neu aufzustellen“, forderte dagegen der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Reiner Hoffmann, als Konsequenz aus der Studie. Die geringe Tarifbindung der Unternehmen sei ein „Armutszeugnis für die deutsche Wirtschaft“. Die Betriebe müssten aufhören, sich permanent Tarifverträgen zu verweigern.

Verdi will Maßnahmen sehen

Die Gewerkschaft Verdi fordert Maßnahmen gegen eine weitere Tarifvertragserosion. Notfalls müsse der Gesetzgeber eingreifen, sagte Norbert Reuter, wirtschaftspolitischer Experte bei Verdi. „Es gibt das Mittel der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen“, sagte er. In diesem Fall werden alle Unternehmen einer Branche unter den ausgehandelten Tarifvertrag gezwungen, auch wenn sie keinem Arbeitgeberverband angehören. Nach Angaben von Verdi wurden bislang von 70.000 Tarifverträgen 502 für allgemeinverbindlich erklärt.

So stellt sich die Bertelsmann-Stiftung die Lösung des von ihr festgestellten Problems nicht vor. Sie setzt stattdessen auf die Allzweckwaffe Bildung und mehr Exporte von kleinen und mittleren Unternehmen. Dort verdienen Beschäftigte mehr als in Firmen, die sich aufs Inland konzentrieren.

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