Standpunkt Klimawandel: Das Energiewende-Paradox

Trotz des Ausbaus der Erneuerbaren steigen die Treibhausgas-Emissionen wieder an. Und nun?

Abraumhalden im braunkohletagebau Welzow in Brandenburg. Bild: dpa

Erfolge der Energiewende – gibt es die? Die Tatsache, dass diese Frage inzwischen auch von Anhängern einer großen Transformation gestellt wird, markiert den größten Etappensieg ihrer Gegner. Aus dem nach dem Fukushima-Schock von einer überwältigenden Mehrheit geradezu euphorisch begrüßten „Generationenprojekt“ ist drei Jahre später eine Veranstaltung geworden, die vor allem gut ist für Negativ-Schlagzeilen.

Sicherlich, eine Mischung aus Dilettantismus und unwilliger Bräsigkeit der abgewählten schwarz-gelben Bundesregierung, sich den Herausforderungen zu stellen, ist mitverantwortlich dafür, dass die Stimmung gekippt ist. Doch die Hauptschuldigen sitzen nicht in Regierungsämtern. Sie sitzen in Redaktionsstuben, den Vorständen von Industrieverbänden oder – besonders verstörend – Wissenschaftsinstitutionen. Sie zwingen dem Land eine überzogene Kostendebatte auf, pflegen skurrile Deindustrialisierungs-Phantasien und können davon offenbar gar nicht mehr lassen.

Mit der realen Wirtschaftsentwicklung in diesem Land hat das offensichtlich nicht das Geringste zu tun. Während die Weltwirtschaft ihre schwerste Depression seit Jahrzehnten erleidet, erwirtschaftet Deutschland einen Rekordexportüberschuss von mehr als sieben Prozent, die Beschäftigtenzahl erreicht ein historisches Allzeithoch, die öffentlichen Kassen füllen sich wie nie zuvor. Gleichzeitig schwadronieren tatsächliche oder nur eingebildete Verlierer der Energiewende von Millionen neuen Arbeitslosen.

Das ist bestenfalls Ergebnis einer Selbstsuggestion. Schlimmstenfalls ist es schlichte Demagogie. Wo steht die Energiewende im Sommer 2014 tatsächlich? Sie steht am Anfang ihrer zweiten Etappe, die in der Tat verbunden sein wird mit großen, auch unerwarteten Herausforderungen. Was ist bisher geschehen? Deutschland hat fast die Hälfte seiner Atomkraftwerke abgeschaltet und sein inländisches nukleares Katastrophenrisiko halbiert. Deutschland bezieht mehr als ein Viertel seines Stroms aus Erneuerbaren Energien – so viel wie ein Industrieland wie Schweden insgesamt benötigt.

Windenergie nun erschwinglich

Die deutschen Stromverbraucher haben fast im Alleingang Windenergie und Solarstrom, die energetischen Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts, erschwinglich gemacht für die ganze Welt. Sonne und Wind erzeugen Strom jetzt ebenso günstig wie neue Kohle- oder Gaskraftwerke und mindestens um die Hälfte billiger als neue Atomkraftwerke. Das war und ist ein teurer Spaß für die privaten Haushalte, die heute doppelt so viel für die Kilowattstunde Strom bezahlen müssen wie zur Jahrtausendwende.

Aber ausgerechnet das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln, das regelmäßig Gift und Galle verspritzt gegen die Energiewende, hat ermittelt, dass ein durchschnittlicher Arbeitnehmer 1960 für 200 kWh Strom fast zehn Stunden arbeiten musste – und heute dreieinhalb. Dieser Wert hat sich seit dem schwarz-gelben Ausstiegsbeschluss von 2011 übrigens nicht verändert. Und die gebeutelte Industrie? Neun von zehn Betrieben weisen Stromkosten von weniger als zwei Prozent ihres Umsatzes aus.

Für sie ist jede Lohnrunde und (falls international engagiert) jede Wechselkursänderung zum Dollar einschneidender als die aktuelle Entwicklung des Strompreises. Die energieintensive Industrie, die am lautstärksten jammert, ist von praktisch allen staatlich erhobenen Umlagen auf den Strom weitgehend befreit. Sie profitiert bis heute von sinkenden Großhandelspreisen, die ein Ergebnis der Energiewende sind – ein Umstand, der mittlerweile in der EU-Kommission und bei unseren Nachbarn für erhebliches Unbehagen sorgt.

Es stimmt, die deutschen Stromverbraucher – jedenfalls, diejenigen die nicht weitgehend befreit sind von den Kosten der Energiewende – zahlen pro Jahr rund 20 Milliarden Euro für die EEG-Umlage und erhalten dafür, was in den Empörungsmedien gern vergessen wird, immerhin ein Viertel ihres Stroms. Für alle vier Viertel zusammen zahlen alle deutschen Stromverbraucher übrigens rund 72 Milliarden Euro.

Auch eine große Zahl, die indes niemanden zu interessieren scheint. Ebenso wenig wie diese: 1991 mussten alle Stromverbraucher zusammen 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Strom aufwenden. Und 2012, mehr als zwei Jahrzehnte später? Lag die nationale Stromrechnung wieder bei 2,6 Prozent. Für Untergangsszenarien bleibt da wenig Raum.

Braunkohleenergie kommt ins Ausland

Nun, da die Phase der Markteinführung der Erneuerbaren Energien abgeschlossen ist und die Phase der Marktdurchdringung beginnt, steht die Energiewende vor wirklich großen Herausforderungen. Zwar haben die Erneuerbaren die Stromerzeugung aus abgeschalteten Atomkraftwerken bisher vollständig ersetzt, weshalb dieser Teil der Operation die nationale Klimabilanz nicht belastet.

Gleichzeitig jedoch werden klimaschädliche Stein- und Braunkohlekraftwerke zu Dauerbrennern und produzieren ebenfalls immer mehr Strom, der zu immer größeren Teilen ins Ausland exportiert wird. Ergebnis ist das Energiewende- Paradox: Deutschland produziert immer mehr Strom klimaneutral aus Wind, Sonne und Co., während gleichzeitig die Klimabelastung wieder zunimmt. Das ist ein dramatischer Befund.

Denn der weit überzogenen ökonomischen Diskreditierung der Energiewende, droht nun eine faktenbasierte ökologische Diskreditierung zu folgen. Wenn das Energiewende-Paradox anhält, werden wir erleben, wie diejenigen, die die Energiewende im Munde führen und sie gleichzeitig täglich bekämpfen, zu überaus engagierten Klimaschützern mutieren – und den Ausbau der Erneuerbaren zu einem untauglichen Instrument gegen den Klimawandel erklären.

Weil der europäische Emissionshandel im Dauerkoma liegt, weil die Braunkohleverstromung nicht zuletzt deshalb konkurrenzlos günstig ist, weil die Steinkohlepreise auf dem Weltmarkt sinken und die Gaspreise eher steigen, weil die dramatische Krise um die Ukraine und die Abhängigkeit der EU von russischen Lieferungen sie voraussichtlich weiter anheizen, kann Deutschland das Dilemma nicht allein bewältigen.

Die drei Optionen

Aber die Bundesregierung kann hierzulande zweierlei versuchen: Nationales Ordnungsrecht – zum Beispiel CO2-Emissionsgrenzwerte wie in Großbritannien – mit dem Ziel installieren, die klimaschädlichste Kohleverstromung vorzeitig und gegen den vorhersehbaren Widerstand der betroffenen Industrien zu beenden. Oder mit eben diesen eine Verständigung suchen für einen nationalen Kohlekonsens.

Klar muss sein: Die dritte Option scheidet aus. Nämlich die, die nationalen und internationalen Klimaziele einfach aufzugeben. Die Energiewende ist auch, aber nicht in erster Linie, ein Industrieprojekt, wie Sigmar Gabriel neuerdings jeden Tag behauptet. Sie ist viel mehr als das, nämlich eine Operation für das Überleben der Menschheit.

Gerd Rosenkranz, Aktuell erschienen ist Gerd Rosenkranz’ Buch „Energiewende 2.0 – Aus der Nische zum Mainstream“, das man kostenlos auf Boell.de herunterladen kann.

Der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeo2 3/2014. Den Artikel können Sie gerne auf unserer Facebook-Seite diskutieren.