Spielfilm „Endless Poetry“: Wo Normalität absurd ist

Mit knapp 90 Jahren immer noch frisch: Der chilenische Kultfilmemacher Alejandro Jodorowsky kehrt mit „Endless Poetry“ ins Kino zurück.

Zwei Männer im Anzug stehen an einer Mole

Alejandro und sein Vater treffen sich am Hafen (Brontis Jodorowsky und Adan Jodorowsky) Foto: Steppenwolf

Poesie ist ein Akt! In Alejandro Jodorowskys neuem Film wird die Dichtkunst zum Gestaltungsprinzip eines halb erfundenen Lebens. Der mittlerweile fast 90-jährige Kultfilmemacher und Guru erzählt in „Endless Poetry“ nach, wie er im Chile der vierziger Jahre vom Kind zum jungen Mann wird, mit seiner Familie bricht, die Liebe zur Kunst entdeckt und sich mit Anfang zwanzig zum Aufbruch nach Frankreich entschließt.

Mit dem Aufbruch endet die Erzählung und bildet nach „The Dance of Reality“ die zweite von drei geplanten Verfilmungen der Autobiografie Jodorowskys. Der Umstand, dass der Regisseur heute beinahe so alt ist wie das Kino selbst, ist seinem Film in keinem Moment anzusehen. Ganz im Gegenteil: Neben „Endless Poetry“ wirkt ein Großteil heutiger Produktionen träge und altbacken.

Warum der Aufbruch? In Paris will der junge Jodorowsky Philosophie an der Sorbonne studieren, mit Marcel Marceau als Pantomime arbeiteten, sich mit André Breton austauschen und den Surrealismus retten. Keine bescheidenen Ziele. Doch die Begegnungen wird es geben, auch wenn sie nicht zur Handlung von „Endless Poetry“ gehören.

Jodorowsky wird seine Einflüsse in einer visionären Kunstsprache und Lebensweise kanalisieren, die ihn in den Siebzigern zu einer Inspiration der US-Gegenkultur und zu einem Aushängeschild des widerständigen Kinos machen. Filme wie „El Topo“ (1970) und „The Holy Mountain“ (1973, produziert von Beatles-Manager Allen Klein) bescheren dem Künstler nach ihren Mitternachtsvorstellungen in New York ein bis heute andauerndes Renommee.

„Endless Poetry“. Regie: Ale­jandro Jodorowsky. Mit Adan Jodorowsky, Brontis Jodorowsky u. a. Frankreich/Chile 2016, 128 Min.

Noch vor seinen filmischen Arbeiten gründet er gemeinsam mit dem Künstler Roland Topor und dem Theatermacher Fernando Arrabal die Performancegruppe „Mouvement panique“. Später beschäftigt er sich in ganzen Büchern, mittlerweile seit Jahrzehnten, mit Tarot und Mystik. Jodorowsky zählt zu den renommierten Verteidigern der Psychomagie, einer Praxis der psychologischen Heilung durch bildhaftes Handeln – im künstlerischen Ausdruck und darüber hinaus. Mit seiner neuen Trilogie kehrt Jodorowsky nach einer über 20-jährigen Pause zum Kino zurück, begleitet von der Wiederentdeckung und Restaurierung seiner Filme in den USA.

Mit seiner neuen Trilogie kehrt Jodorowsky nach einer über 20-jährigen Pause zum Kino zurück

„Endless Poetry“ zeigt etwa zur Halbzeit zwei stilvoll gekleidete Dichter, die die Idee vom künstlerischen Handeln wörtlich nehmen und geradeaus durch die Stadt gehen, allen Hindernissen zum Trotz, über Laster hinweg, durch eine Wohnung und ein Parkhaus, verfolgt von Hunden und fliegenden Orangen ausweichend, bis auf die Mundart-Bühne, wo sie ihrerseits das bürgerliche Publikum mit Essen bombardieren.

Der eine ist Enrique Lihn (Leandro Taub), der einmal zu den wichtigsten chilenischen Dichtern gehören wird. Der andere ist der junge Alejandro, kurz vor seinem Aufbruch nach Europa, auf der Suche nach einer künstlerischen Freundschaft und Partnerschaft, gespielt von Alejandro Jodorowskys Sohn Adan.

Die beiden werden miteinander schreiben, streiten und sich wieder lieb gewinnen, als Teil von Alejandros Freundeskreis: einer ganzen Gruppe von Wahnsinnigen, die in dieser Welt allerdings keineswegs verrückt erscheinen. Denn Jodorowskys Film zeichnet nicht die Abweichung als Abweichung, sondern setzt stattdessen die Normalität als Absurdität. Als Absurdität, die Diktaturen hervorgebracht hat. Als Absurdität, in der Gewalt zum Alltag zählt. Als Absurdität, die über ihre Künstlichkeit nicht hinwegtäuschen kann.

Schwarz verhüllte Phantome

In zahllosen Szenen reichen den Figuren schwarz verhüllte Phantome aus dem Hintergrund Gegenstände an, als wäre die Welt dieses Films in sich eine einzige, hergestellte Bühne. Die Liebhaberin Alejandros und die Mutter etwa werden beide gespielt von derselben Frau, der Opernsängerin Pamela Flores.

Begleitet von Hakenkreuzen kehrt gegen Ende des Films, beinahe wie in einer Fußnote, der Militärdiktator Ibáñez aus dem argentinischen Exil zurück, um im Land aufzuräumen. Der Zug ist aus Pappe, getragen von den Phantomen. Seine Gefolgschaft trägt Besen und ausdruckslose, hautfarbene Kunststoffmasken. Für Alejandros Protestrufe sind diese Statistinnen und Statisten nicht empfänglich.

Doch ohnehin liegen die Realitäten, mit denen er bricht, im Innern: Wie schon in „Dance of Reality“ tritt im Film wieder Jodorowskys zweiter Sohn Brontis als homophober, herrischer Vater auf. Ein gescheiterter, brutaler Mann, der am Ende des ersten Films sein eigenes Bild und das Bild seiner politischen Ikonen gleichermaßen verbrannte.

Wie Jodorowsky die eigenen Söhne als Vater und Alter Ego inszeniert, das macht diese Emanzipationsgeschichte auf ungekannte Weise frei, verwundbar und doch verbindlich, letztlich zeitlos und ungemein vital. „Das Alter ist keine Demütigung“, meint der Regisseur bei einem seiner Auftritte vor der Kamera. Stattdessen geht es um eine tiefgreifende Verwandlung, um das Licht selbst. Also auch ums Kino.

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