Soziologe über spanische Proteste: "Das hat es noch nie gegeben"

Der spanische Soziologe César Rendueles versucht, die Krise der Repräsentation zu erklären. Und sagt, dass der ständige Verweis auf die sozialen Netzwerke, die politischen Inhalte schwächt.

Hände hoch: Jugendproteste in Pamplona. Bild: dapd

taz: Herr Rendueles, die Protestbewegung hat alle überrascht. Diejenigen, die politisch aktiv sind, vielleicht sogar am meisten.

César Rendueles: Ja, wir haben den Aufruf zum 15. Mai für unpolitisch gehalten. Er hat uns irgendwie an die Piratenpartei erinnert. Viele dieser Prozesse im Netz sind ja von einem antipolitischen Gestus geprägt. Die Debatten der Bewegung haben sich aber schnell verändert. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Kritik der Politik, sondern die der Parteien. Man fordert Partizipationsmöglichkeiten, und das hat eine Repolitisierung unter ganz neuen Vorzeichen ermöglicht.

Mich erinnern die Bilder an Lateinamerika, wo in den vergangenen 15 Jahren in vielen Ländern Repräsentationskrisen ausgebrochen sind.

Repräsentationskrise ist der richtige Begriff. Viele Medien behaupten, die Partido Popular hätte die Kommunalwahlen am 22. Mai gewonnen. Völliger Unsinn. Auch die Konservativen haben Stimmen verloren. Gestiegen ist nur die Wahlenthaltung. Interessant ist, dass von dieser Repräsentationskrise auch die Mehrheitsgewerkschaften betroffen sind, denen man ihre Nähe zu Regierung und Unternehmerverbänden vorwirft; und die alternative Linke. Auch sie fußt ja irgendwie auf der politischen Form Partei.

Im Zusammenhang mit den arabischen Revolten und jetzt der 15-M ist viel von Facebook-Revolutionen die Rede. Kritische Stimmen haben angemerkt, dass die Revolten der Vergangenheit auch nicht als Zeitungsrevolutionen bezeichnet werden, nur weil die Aufrufe damals in Zeitungen verbreitet wurden. Sie forschen zu Neuen Medien. Wie würden Sie deren Einfluss auf die Bewegung beschreiben?

Ich habe den Eindruck, dass der ständige Verweis auf die sozialen Netzwerke den politischen Gehalt der Revolte stillstellt. Hinter dem Argument verbirgt sich ein bizarrer Technikfetischismus. Im arabischen Raum, wo ja nur ein sehr begrenzter Teil der Bevölkerung Zugang zum Internet hat, ist das fast schon lächerlich. In Libyen soll fünf Prozent der Bevölkerung das Internet nutzen. Mit dem Facebook-Diskurs wird unterschwellig postuliert, die fortschrittliche, westliche Technologie verwandle rückständige, islamistische Gesellschaften in Demokratien.

geb. 1975, lebt als Soziologe und Kurator in Madrid, wo er Soziologie an der Universidad Complutense unterrichtet und in dem multidisziplinären Kulturzentrum Circulo de Bellas Artes Ausstellungen kuratiert.

Ich denke hingegen, dass es genau andersherum ist. Die Revolten waren möglich, weil es kommunitäre Strukturen, unmittelbare Kommunikationsnetze oder - im Fall Ägyptens - wichtige Gewerkschaftskämpfe gab. Erst in diesem Zusammenhang konnten soziale Netzwerke oder Kommunikationswege wie Twitter produktive Wirkung entfalten. So wie auch Bücher oder Zeitungen.

Das Erstaunlichste an den Bildern aus Madrid scheint mir die Rückkehr der Versammlungen, der Räte. Und man hat den Eindruck, dass es dabei sehr diszipliniert zugeht.

Soziologisch betrachtet ist das faszinierend: wie groß die Leidenschaft der Menschen zu reden und zuzuhören ist. Es ist wie eine Rückkehr zum eigentlichen Wesen der Demokratie. Man eröffnet einen Raum der Debatte - und zwar nicht, um pragmatische Entscheidungen zu treffen, sondern um grundsätzliche Fragen zu erörtern. Auch deswegen finde ich die These von der Facebook-Bewegung falsch. Die Leute sind auf den Plätzen, weil sie es leid sind, im Netz miteinander zu kommunizieren, sich in Foren zu beschimpfen.

Die Energie der Bewegung speist sich daraus, dass man sich begegnet, man sich gern zuhört und dass sehr unterschiedliche Erfahrungen zusammenkommen: von der Hausfrau und dem Black Block bis hin zu Rentnern und jungen Studierenden. Ich war völlig perplex, dass ich auf der Versammlung in unserem Viertel sehr viele Eltern getroffen habe, die ich vom Spielplatz kenne. Mit denselben Menschen, mit denen ich sonst über Kinderspielzeug rede, habe ich über den Kapitalismus und neoliberale Globalisierung diskutiert.

Auf den Bildern sieht man kaum Immigranten, obwohl sie von der Krise am härtesten betroffen sind.

Die Abwesenheit der Immigranten ist natürlich symptomatisch für den Zustand der spanischen Gesellschaft. Die Repression gegen Einwanderer hat ein solches Ausmaß erreicht, dass Immigranten schlicht und einfach Angst haben, zu den Versammlungsorten zu gehen. Ihre Abwesenheit hat aber auch mit uns zu tun. Die Einwanderer haben eigene soziale und Kommunikationsnetze, und wir haben in den vergangenen Jahren wenig dafür getan, um Verbindungen aufzubauen. Ermutigend finde ich aber, dass die Bewegung in dieser Frage keineswegs blind ist. Die Stadtteilversammlung von Carabanchel hat sich dieser Tage geschlossen auf den Weg gemacht, um die Polizei an Personenkontrollen bei Immigranten zu hindern.

Obwohl das Camp an der Puerta del Sol abgebaut wird, scheint es weiterzugehen.

Dieser Tage waren Tausende vor dem spanischen Kongress, um gegen die Verabschiedung der neuen Arbeitsgesetze zu demonstrieren. Normalerweise geht die Polizei in der Bannmeile mit größter Gewalt vor. Trotzdem waren Tausende dort - ohne Unterstützung von Gewerkschaften, Parteien oder sonstigen Organisationen. Das hat es in Spanien noch nie gegeben. Wir erleben einen Augenblick großer Spontaneität. Die Bewegung ist sehr jung, wenig artikuliert und kann dementsprechend jederzeit auseinanderfallen. Aber sie kann sich eben auch weiterentwickeln.

Ich habe den Eindruck, dass sich die Bewegungen am europäischen Rand gegenseitig transformieren. In Griechenland waren die Proteste bislang vor allem von Gewerkschaften und linken Organisationen getragen. Durch die Bewegung 15-M scheinen nun auch die Proteste in Griechenland ihren Charakter zu ändern. Weit mehr als 100.000 Menschen haben letzte Woche das Parlament in Athen belagert.

Ja, die griechische Bewegung schien am Anfang traditioneller zu sein. Die Gewerkschaften spielten eine zentrale Rolle, und die Linksradikalen haben sofort eine direkte Konfrontation mit der Polizei gesucht. Das Interessante am 15-M ist, dass die Bewegung einen Punkt in der Mitte gefunden hat: eine Form des Ungehorsams, die von sehr vielen Menschen praktiziert werden kann. Diese Praxis ist von offenen, horizontalen Diskussionen, dem Verzicht auf Gewalt und einer Ablehnung der Parteien geprägt.

Für einen Teil der Linken ist das nur schwer zu akzeptieren: Sie verstehen nicht, warum ihre Organisation, die schon seit Langem gegen die Sozialpolitik der Regierung protestiert, nicht an den Protesten teilnehmen soll. Aber genau diese Ablehnung von Partei und Organisation erlaubt es der Bewegung, sich zu entwickeln. Sicher muss man aufpassen, eine politische Reinheit zu idealisieren.

Subjektiv gesprochen: Was ist das Wichtigste in diesen Wochen?

Die Erfahrung, dass politische Diskussionen nicht auf marginale Orte beschränkt bleiben müssen, wo die Auseinandersetzung über den Zustand der Gesellschaft wie eine Farce, wie eine theatralische Inszenierung wirkt. Das impliziert natürlich große Widersprüche. Man muss sich Menschen gegenüber verständlich machen, deren Realität wenig mit der eigenen zu tun haben. Aber das ist der Kern der Politik. Das ist das Bewegende in diesen Wochen.

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