Sozialpsychologe über die SPD: „Unsicher, nervös und zerrissen“

Die SPD leidet an einem Minderwertigkeitskomplex, analysiert Christian Schneider. Sie sei sowohl alte Dame als auch Rebellin.

Eine lachende Frau und ein ernst guckender Mann.

Mächtig, das sind die Konservativen: Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) hinter der Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Foto: dpa

taz am wochenende: Herr Schneider, die SPD hat gerade den 70. Jahrestag der Wiedergründung nach der Nazizeit gefeiert. Mir wird oft traurig zumute, wenn ich über die SPD nachdenke. Sie ist ein schwerer Fall, oder?

Christian Schneider: In der Tat. Um das Dilemma der SPD zu verstehen, muss man ihren Grundkonflikt betrachten.

Welcher wäre?

Die SPD ist ja die deutsche Partei schlechthin. 150 Jahre alt, viel älter als die Konkurrenz. Sie ist eine alte, ehrwürdige Dame, die schon alles gesehen hat. In ihr steckt aber auch ein rebellisches Mädchen mit Punkhaarschnitt und Nasenring. Die SPD lebt eine Tradition des Antitraditionalismus.

In Politische übersetzt: Die Sozialdemokratie will regieren, aber immer auch Opposition sein. Diese Dialektik führte historisch gesehen dazu, dass die CDU seit 1949 fünfmal den Kanzler stellt, die SPD nur dreimal. Sie ist die ewige Zweite.

Die Wiedergründung: Auf der Wennigser Konferenz, die vom 5. bis 7. Oktober 1945 in Wennigsen bei Hannover stattfand, formierte sich die Partei neu. Zutritt hatten 33 Delegierte aus der britischen Besatzungszone sowie drei Mitglieder des Londoner Exilvorstandes.

Der Konflikt: Die Tagung war von heftigen Streitereien geprägt. Es ging um die Zusammenarbeit von SPD und KPD, letztendlich hat man sich gegen sie entschieden.

Die Entschlüsse: Inhaltlich wurde das marxistische Grundsatzprogramm von 1925 bestätigt. Es sah auch Verstaatlichungen vor. Die Versammlung beauftragte Kurt Schumacher mit der Leitung des Wiederaufbaus der SPD in den drei westlichen Besatzungszonen.

Gleichzeitig staatstragend und dagegen zu sein, ist nicht einfach. Die SPD ist nie wirklich in der Macht angekommen. Ihr Ursprung liegt in der Arbeiterbewegung, sozusagen in sozialrevolutionären Quellen. Deshalb hat sie – psychologisch gesprochen – das Problem des Unterlegenen. Sie nimmt die Position des rebellischen Kindes ein. Macht ausüben kann aber nur der Erwachsene, der Vater oder die Mutter.

Konservative Politiker strahlen oft ein natürliches Selbstbewusstsein aus. Diese höflich-entspannte Gelassenheit, im Sinne von: Wir regieren und werden das auch weiter tun, egal was ihr Journalisten schreibt. Die SPD ist empfindlicher, schneller beleidigt, sie merkt sich jede kleine Spitze.

Ich würde das konservative Lebensgefühl sogar noch grundsätzlicher formulieren. Wir sind da. Wir werden immer da sein.

ist Sozialpsychologe und Führungskräftecoach und lebt in Frankfurt am Main. Er promovierte bei Oskar Negt, lehrte an den Universitäten Hannover und Kassel. Er forschte zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus und zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust.

Uns kann keiner was?

Genau. Bei den Politikerporträts, die ich für die taz schreibe, ist mir aufgefallen, dass diese Menschen in sich ruhen. Sie stammen aus geordneten Verhältnissen, haben einen bildungsbürgerlichen Hintergrund, sind vielleicht gläubig. Das sind oft sympathische, innerlich gefestigte Persönlichkeiten, mit denen man sich gerne unterhält. Bei der SPD gibt es viel mehr gebrochene Lebensentwürfe. Sie kämpft viel stärker um Anerkennung als die CDU.

Nehmen wir ihren Vorsitzenden, Sigmar Gabriel. Seine Neigung zu schlechter Laune ist unter Journalisten geradezu legendär. Pressekonferenzen arten oft zu Machtspielchen aus. Er hat auch kein Problem damit, Leute zusammenzustauchen, die in der Parteihierarchie weit unter ihm stehen.

Gabriels Jugend muss nicht einfach gewesen sein. Die Eltern früh getrennt, die Mutter war Krankenschwester, der Vater ein überzeugter Nazi. Ich würde hier nicht von einem bestimmten Typus sprechen wollen. Aber solche Verhaltensweisen kommen bei Aufsteigerkarrieren vor. Sie haben es von unten nach ganz oben geschafft und zeigen das auch. Wer mit dem goldenen Löffel im Mund aufwuchs, hat es nicht nötig, sich so zu produzieren.

Die SPD hat mit Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder auch Kanzler gestellt. Waren das keine Vaterfiguren, um in Ihrem Bild zu bleiben?

Brandts Lebensentwurf war zu gebrochen. Er war eigentlich ein echter Linker, ein Rebell. Die Emigration während der Nazizeit, die depressiven Verstimmungen, er war kein in sich ruhender Vater. Helmut Schmidt repräsentierte den Typus kühler Manager. Wenn überhaupt, war er der abwesende Vater, der den ganzen Tag arbeitet, schlecht gelaunt nach Hause kommt und die Kinder wegen schlechter Noten bestraft. Und Schröder? Der verkörperte doch den Prototyp des jungen Aufsteigerrüpels.

Die SPD hat in Bundesregierungen Überzeugungen geschleift, die ihr heilig waren. Erst die Agenda 2010 mit den Hartz-Gesetzen, dann die Rente mit 67, dann eine Mehrwertsteuererhöhung. Sie hat ihren Wesenskern, nämlich den der sozialen Gerechtigkeit, verraten, weil sie dachte, eingebildeten oder realen Sachzwängen genügen zu müssen.

Unabhängig davon, ob man die Agenda-Politik für richtig oder falsch hält: Die SPD hat damit ihren Markenkern zerstört. Ihr Verhalten während dieser Jahre passt übrigens hundertprozentig in das erwähnte Muster. Im Rebellentum ist die Überanpassung ja oft schon angelegt.

Inwiefern?

Nehmen Sie eine typische Adoleszenzentwicklung: Ein Kind kommt in die Pubertät und wird erwachsen. Dabei rebelliert es gegen die Eltern oder, ganz allgemein, gegen die Werte der Gesellschaft. In den meisten Fällen legt sich diese rebellische Phase wieder. Und in einigen kommt es danach zur Überanpassung. Der Erwachsene nimmt nicht nur die gängigen Normen an, er muss dauernd beweisen, dass er total vernünftig geworden ist. Aus Rebellen werden manchmal Oberspießer.

Wenn Menschen lange gegen ihre Wünsche und Überzeugungen handeln, hat das unterschiedliche Folgen. Sie werden aggressiv, sie gehen in die innere Emigration oder es kommt zu charakterlichen Deformationen. Was passiert mit Politikern oder einer Partei?

Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder der Politiker wird zynisch. Das würde ich zum Beispiel Gabriel unterstellen, ich nenne ihn ja auch gerne „Zickzack-Dicksack“, weil er alle paar Tage seine Meinung ändert. Oder der Politiker tritt aus. Ich glaube, dass man Realpolitik ohne ein gewisses Maß an Zynismus nicht betreiben kann.

Mein Eindruck ist, dass die SPD an sich selbst leidet wie keine andere Partei. Das hat oft etwas Selbstquälerisches. Ein Sozi findet sich immer, der öffentlich den eigenen Laden schlechtredet.

Natürlich, das ist so. Die SPD ist schizophren, weil sie eigentlich aus zwei Parteien besteht: der SPD und der USPD. Oskar Lafontaine hat bis zu seinem Austritt diese linke Strömung repräsentiert. Eigentlich hätte sich die SPD zu einem wichtigen Zeitpunkt spalten müssen, etwa bei der Agenda 2010. Das hat sie nicht getan. Stattdessen hat sie ihren Zwiespalt nach innen verlagert, während einige Enttäuschte zur Linkspartei überliefen und sich ganze Wählergruppen abwendeten.

Wie wäre die SPD, wenn sie ein Mensch wäre?

Unsicher, nervös und zerrissen. Sie ruht nicht in sich selbst. Diese Partei handelt nicht mehr von einer festen Basis aus. Deshalb ist sie auch so abhängig von Erfolgen.

Weil jemand, der mit sich selbst nicht klarkommt, besonders viel Anerkennung von außen braucht?

Die SPD reagiert auf Wahlsiege oder Niederlagen anders als andere Parteien. Da geht es nicht nur um Zahlen, sondern immer gleich auch um Grundsätzliches. Die Sozialdemokraten fragen sich, wer sie sind, was sie können, ob sie da sind, wo sie sein wollen.

Die SPD liegt, seitdem sie wieder mit Merkel regiert, in Umfragen wie festgefroren bei 25 Prozent. Sie bleibt unbeliebt, obwohl sie mit ihren Themen die Koalition innenpolitisch dominiert. Ich würde das auch als Spätfolge der Agenda-Frustration interpretieren. Der Vertrauensverlust bei den Wählern war so gravierend, dass aktuelle Reparaturen wie der Mindestlohn oder die Rente mit 63 nicht helfen. Wie sehen Sie das?

Ich stimme zu. Im Grunde versucht es die SPD allen recht zu machen. Sie will Fürsprecherin des kleinen Mannes sein, aber es sich bloß nicht mit den Eliten verscherzen. So was heißt, eine opportunistische Struktur zu verinnerlichen. Opportunisten aber werden nicht geliebt. Böse gesagt: So, wie sich die SPD im Moment präsentiert, ist sie eine gute Juniorpartnerin der Konservativen. Aber sie ist keine Regierungspartei. Mutti thront ganz oben, das Kind darf sich sicher fühlen.

Wir dürfen die Patientin natürlich nicht ohne Rat nach Hause schicken. Was kann die SPD tun, damit sich ihre Situation ändert?

Sie braucht ein anderes Personaltableau. Ein charismatische Persönlichkeit, der oder die sagt, so machen wir das jetzt, könnte die innere Zerrissenheit überspielen. Langfristig könnte Manuela Schwesig eine solche Option sein. Sie ist jung, durchsetzungsstark, man hört ihr gerne zu, und ihre Themen interessieren die Menschen.

Und wie wird die Partei ihren Minderwertigkeitskomplex los?

Um ihre innere Verfasstheit zu stärken, bräuchte die SPD vor allem Klarheit. Aber die wird es nicht geben, solange sie beide Charakterzüge, das Staatstragende und das Rebellische, vereinen will.

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