Sozialgeschichte des Gabentischs: Erst stirbt der Spielsoldat, dann Papa

Eine Lübecker Schau erzählt die Sozialgeschichte des Gabentischs der letzten 120 Jahre und zeigt manipulative Spiele des Ersten Weltkriegs und der NS-Zeit

Krieg im Kinderzimmer: Amerikanisches Militärspielzeug aus dem Jahr 1941 Foto: Geschichtswerkstatt Herrenwyk

Die wollen ja nur spielen, die Kleinen. Und die Erwachsenen gleich mit. Wenn sie dann vertieft sind und das Unterbewusste gänzlich unbewaffnet daliegt: Dann sickern politische Botschaft und Indoktrination direkt ins Spielerhirn, damit sie sich festsetzen im Sinne der Herrschenden. Weil es eben einen Unterschied macht, ob ein Spiel „Mensch, ärgere dich nicht“ heißt oder „Marsch, raus mit ihm!“

Denn auch wenn es sich um dasselbe Spiel handelt: Bei der zweiten Variante geht es nicht mehr ums Verlierenkönnen und Sozialkompetenz. Sondern um Konkurrenz und Ausgrenzung dessen, der nicht mehr fürs Spiel „taugt“.

Sehr deutlich wird dieser Subtext auf dem Cover des in den 1920er-/1930er-Jahren verkauften Spiels, in dem ein gut Gekleideter einen Arbeiter mit Schiebermütze aus dem Spielfeld tritt. Ein getreues Abbild des Hie­rarchiedenkens der Kaiserzeit, das bis in die Weimarer Republik ausstrahlte. Auch den latenten Antisemitismus und die spätere Ausgrenzung von Juden durch das NS-Regime klingen an.

„Spiele sind immer Spiegel ihrer Zeit und oft politisch“, sagt Helga Martens, Kuratorin der Ausstellung „Bescherung unterm Weihnachtsbaum“ im Lübecker Industriemuseum Geschichtswerkstatt Herrenwyk. Gezeigt wird sie im Kaufhaus der Arbeitersiedlung des einstigen Hochofen- und Metallhüttenwerks von 1906. Die Werkstatt, mit einer Drei-Tage-Direktorin notdürftig städtisch finanziert, floriert dank des Engagements des Vereins für Lübecker Industrie- und Arbeiterkultur, deren Vorsitzende Helga Martens ist.

Schließung der Geschichtswerkstatt bislang verhindert

Etliche Male schon hat der Verein gegen die Schließung des Hauses protestiert, während der einjährigen Direktoren-Vakanz sogar die gesamten Geschäfte geführt – und nimmermüd, bis heute, mehrere Ausstellungen pro Jahr gestemmt.

„Unser Credo war immer: Wir müssen das Haus bespielen, hier muss etwas stattfinden“, sagt Helga Martens. Sie hängt an der Gegend, ist selbst in der Nähe der Werkssiedlung groß geworden und hat im Hochofenwerk Chemie-Laborantin gelernt.

Es macht einen Unterschied, ob ein Spiel „Mensch, ärgere dich nicht“ heißt oder „Marsch, raus mit ihm!“

Später war sie lange bei der Stadt beschäftigt, hat Kinder- und Jugendprojekte geleitet und irgendwann angefangen, in der Freizeit die museumspädagogische Arbeit der Geschichtswerkstatt aufzubauen. Wofür Direktorin Bettina Braunmüller, seit 15. August dieses Jahres im Amt, sehr dankbar ist. „Ohne den Verein könnten wir die Ausstellungen nicht stemmen“, sagt sie.

Warum dort gerade jetzt eine Weihnachtsausstellung steht, ist nicht schwer zu raten. Aber die eigentliche Motivation war eine Parallelausstellung im St.-Annen-Museum in Lübecks Innenstadt. Dort läuft derzeit die Schau „Weihnachtswünsche. Die Welt des Spielzeugs um die Jahrhundertwende“. Edle Puppen und Teddys, hochwertige Schaukelpferde und Eisenbahnen sind dort zu sehen – Spielzeug des gehobenen Bürgertums eben.

Jedes Ausstellungsstück sieht „bespielt“ aus

Und genau dies vermittle ein schiefes Bild, findet Helga Martens. „So teure Geschenke konnten sich nur die oberen Zehntausend leisten.“ Auch dass die Spielsachen im St.-Annen-Museum so gut erhalten seien, spreche Bände. „Die Sachen durften vermutlich nur einmal im Jahr bespielt werden.“

In Herrenwyk ist das anders. Da sieht jedes Exponat der Schau, die 120 Jahre exemplarisch abbildet, benutzt aus. Der Teddy ist struwwelig geliebt, das Kartenspiel hat Eselsohren, das Quartett kaum noch Farbe. Aus ihrer eigenen, 2.700 Stücke fassenden Spielzeugsammlung hat Helga Martens die Schau bestückt, um zu zeigen, womit die Mittelschicht spielte, wenigstens das. Denn Spielzeug aus der Arbeiterschicht gab es kaum, weil den meist kinderreichen Familien Platz und Geld fehlten. Zweitens sind deren handgemachte Bälle und Puppen aus Lumpen längst verrottet.

Aber auch die Mittelschicht-Gabentische zeigen, wie politisch viele Spiele waren. Da liegt zum Beispiel ein Durchhalte-Quartett aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Fleisch- und Schuhquartette müssen die Kinder zusammenstellen, „Das Heer muss Leder reichlich haben, weil kalt und nass der Schützengraben“ steht da. Und damit Papa keine Zweifel am Sinn des Krieges entwickelte, bekam er ein papierenes Schachspiel an die Front.

Noch konkreter sind die Plastolin-Soldaten, wo auch mal ein Verletzer oder Toter auf der Bahre liegt, damit sich die Kinder daran gewöhnen, dass Papa vielleicht nie heimkehrt. Offen agitatorisch auch das Kriegsspiel „Blau gegen Rot – Das neue Wehrsportspiel der deutschen Jugend und ihrer Führer. Es stammt aus den 1930er-Jahren, die Worte „Wehrsport“ und „Führer“ waren ausgekratzt, als Helga Martens es auf einem Flohmarkt fand.

Ideologisches Wissensspiel aus der Nazi-Zeit

Das Wissensspiel „Daten der deutschen Geschichte“ aus derselben Zeit wiederum kommt zunächst unverfänglich daher: „Wann regierte Karl der Große?“, „Wann war der 30-jährige Krieg?“ lauten die ersten Fragen. Das Prélude ist der Manipulation unverdächtig, bis man unversehens bei Fragen nach Hitlers Geburtstag, dem „Erbgesundheitsgesetz“ und dem „Anschluss“ des Sudetenlandes ankommt. „Da kann mir keiner erzählen, dass er nicht wusste, dass es auf Krieg hinauslief“, sagt Direktorin Braunmüller.

Von dem Deutschlands Spielemacher in den 1950er-Jahren nichts mehr wissen wollten. Jedenfalls scheinbar; Wildwest-Spiele und „Räuber und Gendarm“ gab es noch; dazu kamen ganze Kriegsspiel-Sätze aus den USA. Großteils ersetzte in den 1960er-, 1970er-, 1980er-Jahren aber der Konsum die Politik. Plastik, massenproduziert, machte Geschenke billig; jetzt kaufte der Vater Fisher Price, statt einen Kran selbst zu bauen; es folgte elektrisches Spielzeug, das auch allein klarkam. Die Tamagochis der 1990er-Jahre waren dann wieder fast archaisch mit ihrem hohen Pflegebedarf.

Und so läuft man von Vitrine zu Vitrine, erkennt ein Flohspiel hier, ein Matchbox-Auto da aus der eigenen Kindheit – und fühlt sich hin- und hergerissen: Ist dieser olle Gebrauchsgegenstand von gestern wirklich eines Museums würdig? „Genau das ist der Unterschied zur Schau im St.-Annen-Museum“, sagt Helga Martens. „Dort sagen die Leute: „Das sieht toll aus!“ Bei uns sagen sie: „Das hatte ich auch!“

Die Ausstellung ist bis 4.2. 2018 im Industriemuseum Geschichtswerkstatt Herrenwyk in Lübeck zu sehen

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.