Sicherheitslage in Afghanistan: Von Politik in Propaganda abrutschen

Westliche Regierungen veranstalten Zahlenspiele, um die Lage in Afghanistan schönzureden. Die Taliban warten ab. Ein Plan B für die Zeit nach dem Abzug fehlt.

Alltag in Lashkar Gah: Ein Mädchen geht mit ihrer Mutter einkaufen. Doch diese Normalität ist brüchig – trotz Isaf-Einsatz. Bild: dapd

KABUL taz | Als vor gut einer Woche ein Taliban-Kommando ein Polizeihauptquartier in Kabul angriff, twitterte das Hauptquartier der Nato-geführten Internationalen Afghanistan-Schutztruppe Isaf in Kabul: „Die Taliban verlieren diesen Kampf, werden schwächer.“ Seit Jahren argumentiert Isaf, dass solche Nadelstichoperationen eher Verzweiflungstaten der Aufständischen seien.

Dabei können sich Isaf und das Verteidigungsministerium ihres wichtigsten Truppenstellers, der USA, nicht einmal darauf einigen, wie sich die Sicherheitslage am Hindukusch wirklich entwickelt. Der letzte Pentagon-Bericht konstatiert für 2012 einen Anstieg „vom Feind initiierter Angriffe“ um 1 Prozent; Isaf meldet ein Sinken um 6 Prozent.

Auf diesen Zahlen beruhen auch die Afghanistan-Fortschrittsberichte der deutschen Bundesregierung. Vor einer Woche musste sie allerdings dem Bundestag gestehen, dass wegen Verzögerungen auf afghanischer Seite „etwa 10 Prozent“ der Angriffe nicht in ihre Statistik eingegangen seien.

Jede landesweite Berichterstattung habe ohnehin „wenig reale Bedeutung“, wenn sie nicht qualitativ die Lage in Schlüsselgebieten betrachte, so Anthony Cordesman, Berater des republikanischen Senators John McCain, der für den Washingtoner Think Tank CSIS regelmäßig Afghanistan-Reports verfasst.

Schlüsseldistrike unter Taliban-Kontrolle

Die Lage in den Schlüsselgebieten bewertet der vom US-Kongress eingesetzte Sondergeneralinspekteur für Afghanistans Wiederaufbau, John Sopko. Seinem letzten Bericht zufolge „kämpfen die afghanische Regierung und die Schattenregierung der Taliban weiterhin um Kontrolle über Kandahar“, die Hochburg der Taliban. Drei Schlüsseldistrikte unmittelbar vor den Toren der Provinzhauptstadt stünden „weitgehend“ unter Taliban-Kontrolle.

In der Nachbarprovinz Helmand unterhalten die Taliban immer noch in „bestimmten Gegenden“ parallele Regierungsstrukturen. Nach Kandahar und Helmand hatte US-Präsident Barack Obama Anfang 2009 33.000 zusätzliche Soldaten geschickt, um „das Momentum der Taliban zu brechen“. Laut Cordesman gibt es „keinerlei Anzeichen“, dass Isaf und die afghanischen Streitkräfte „jetzt gewinnen“.

In Erwartung des Abzugs der Nato-Kampftruppen Ende 2014 haben die Taliban ihre Aktivitäten in weniger zentrale Gebiete verlagert. In den Ostprovinzen Kunar und Nuristan hält die Regierung nur noch einige Garnisonen. In Nuristan bemerkten afghanische Behörden Mitte des Monats das Fehlen von 66 Polizeifahrzeugen und 2.700 Schusswaffen, die wohl in Richtung Taliban verschwunden sein dürften.

6 bis 10 tote Polizisten täglich

In der Westprovinz Farah brachten Taliban in den letzten Wochen fünf örtliche Polizei- und Geheimdienstchefs um, drei weitere Attentate scheiterten knapp. Im Norden beschossen sie vorletzte Woche erstmals das Distriktzentrum von Marmal, nach dem der dortige zentrale Bundeswehrstandort Camp Marmal benannt ist. Das afghanische Innenministerium meldet, täglich kämen sechs bis zehn Polizisten bei Anschlägen ums Leben. Fortschritte in der Sicherheitslage sind also Anzeichen der – wie Cordesman schreibt – „unvermeidlichen Tendenz“ von Regierungen, „ihre Politik zu verkaufen und dabei in Propaganda abzurutschen“.

Mit dem früheren Nato-Generalsekretär George Robertson und einem ehemaligen US-Vertreter bei der Allianz, Kurt Volker, warnten in einem prominenten Leitartikel weitere der Panikmache unverdächtige Quellen vor einem Zusammenbrechen der Regierung Präsident Hamid Karsais.

Plan B, der sich an Menschenrechten orientiert

Die Übergabe der Sicherheitsverantwortung, schrieben sie, „ist ein Instrument dafür geworden, unseren Abzug zu ermöglichen, nicht um Afghanistans Zukunft zu sichern“. Sie verlangen einen „Plan B“, der sich „an substanziellen Zielen“ wie dem Erhalt der Menschenrechte und nicht am Abzugszeitpunkt orientiert.

Robertson und Volker sagen nicht, ob und wie das mit Karsai erreicht werden kann. Der kann zwar nach zwei Amtsperioden bei der nächsten Präsidentschaftswahl im April 2014 nicht mehr antreten. Er sucht aber intensiv nach einem Wunschnachfolger sowie nach Mitteln, die überdimensionierten Streitkräfte des Landes auch danach bezahlen zu können.

Selbst bei inzwischen Nato-verordneter Verringerung der Streitkräfte von derzeit etwa 350.000 auf 230.000 bis 2017 kostet das 4 Milliarden US-Dollar im Jahr. Das entspricht in etwa dem afghanischen Gesamtetat. Zwei Drittel will deshalb Washington beisteuern, der Rest soll aus anderen Geberländern wie Deutschland kommen. Falls Eurokrise, US-Fiskalklippe sowie Konflikte wie in Syrien und Mali keinen Strich durch diese Rechnung machen.

Der Autor leitet das unabhängige Afghanistan Analysts Network, Kabul/Berlin.

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