Sexuelle Gewalt gegen Kinder: Klägliche Bilanz

Längere Verjährungsfristen, Therapieangebote, Opferentschädigung, ein Hilfsfonds – der runde Tisch hatte eine Menge vor. Viel passiert ist nicht.

Auf dem Rosenmontagsumzug 2013 in Düsseldorf thematisiert ein Karnevalswagen Missbrauch in der katholischen Kirche. Bild: dpa

Tina W. hat ihren Vater angezeigt. Der hat sie und ihre Schwester als Kinder sexuell missbraucht. Fast dreißig Jahre brauchte Tina W. um zu verstehen, was damals in dem Haus in dem kleinen Dorf in Brandenburg passierte: das Berühren ihrer Brüste und der Vagina, die intensiven Küsse und dieses ständige Knuddeln und Streicheln. Jahrelang hat sie das verdrängt, einen ganzen Teil ihrer Kindheit. Sie hat den Missbrauch von sich abgespalten, sagen Experten dazu. Jetzt will Tina W., dass der Mann, vor dem sie jahrelang Angst hatte und dem sie als Tochter nur selten entkam, zur Rechenschaft gezogen wird.

Das wird vermutlich aber nicht passieren. Tina W. ist heute 51 Jahre alt. Die Tat, die die Lehrerin vor zwei Jahren angezeigt hat, ist lange verjährt. Nach Aussage des Polizeibeamten hätte sie schon vor über zwanzig Jahren die sexuelle Gewalt melden müssen. Aber damals war ihr der Missbrauch nicht bewusst. Als sie das verstand, brach sie zusammen. Seitdem wird sie psychologisch betreut. Aber die Therapiestunden, sagt Tina W., helfen ihr nur wenig: „Die Psychologin ist auf Missbrauch nicht spezialisiert.“ Aber sie mache trotzdem weiter, sagt sie: „Das ist immerhin besser als nichts.“

Der Fall von Tina W. ist ein Fall von vielen. Jedes Jahr werden 12.000 bis 16.000 Fälle angezeigt, 12.444 waren es allein 2011. Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Und Tina W. ist ein Opfer eines Systems aus Gesetzen und Hilfsmaßnahmen, das mit diesen Fällen umgehen muss.

März 2010: Die Bundesregierung beschließt einen runden Tisch zum Thema "Sexueller Kindesmissbrauch". Das Gremium, dem auch Opfer- und Familienverbände angehören, tagt insgesamt siebenmal

März 2010: Christine Bergmann (SPD), frühere Bundesfamilienministerin, wird unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. Sie richtet eine Hotline ein, bei der sich in kurzer Zeit 20.000 Opfer melden. Noch heute rufen täglich 40 bis 60 Betroffene an.

September 2011: Die Bundesregierung beschließt einen Aktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt - auf Grundlage von Bergmanns Empfehlungen.

Dezember 2011: Johannes-Wilhelm Rörig übernimmt das Amt.

7. Dezember 2011: Das Kabinett beschließt den Abschlussbericht des runden Tischs. (sis)

Sexuelle Gewalt gegen Kinder müsse streng geahndet und lückenlos aufgearbeitet werden, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor drei Jahren heftig gefordert, als massenhaft Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche bekannt wurden. Das hatten damals auch Familienministerin Kristina Schröder, die damalige Bildungsministerin Annette Schavan (beide CDU) und Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) gefordert.

Therapieangebote verbessert

Seitdem leiten die Ministerinnen den runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch, an dem Vertreter der Opferverbände sitzen. Das Gremium hat vor anderthalb Jahren eine lange Liste vorlegt, wie den Opfern am besten geholfen werden kann: Verjährungsfristen müssen verlängert werden, heißt es in dem Papier. Therapieangebote gehören dringend verbessert, ein Opferentschädigungsgesetz und ein Hilfsfonds müssen her. Am heutigen Mittwoch wollen die drei Ministerinnen abschließend bekannt geben, was daraus geworden ist. Was wird das sein?

Nicht viel, sagt Johannes-Wilhelm Rörig, der unabhängige Beauftragte gegen sexuellen Kindesmissbrauch. „Bei den Opfern ist von den Bemühungen der Bundesregierung bisher nichts angekommen“, sagte der Mann, der sich als Anwalt der Betroffenen sieht. Das Beratungsnetz ist nach wie vor löchrig, ländliche Gegenden sind unterversorgt, und Angebote für Jungs und Männer sowie Menschen mit Behinderungen sind rar. Thomas Schlingmann von der Berliner Beratungsstelle Tauwetter für Männer sagt: „Viele Nutzer unserer Beratungsstelle fühlen sich von der Politik verschaukelt und verraten.“

Die Ministerinnen halten dagegen: Es gibt verschiedene Aufklärungskampagnen, das Schröder-Haus gibt allein 4,5 Millionen Euro dafür aus. Die neue Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU), die nach Schavans Rücktritt auch das Feld sexuelle Gewalt an Kindern übernommen hat, kann immerhin darauf verweisen, dass ihre Vorgängerin 30 Millionen Euro in die Forschung gesteckt hat.

Und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger? Ihre Bilanz dürfte am kläglichsten ausfallen. Ihr Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG), das 2010 bereits als großer Durchbruch gefeiert wurde, steckt im Rechtsausschuss fest. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass es da vor der nächsten Bundestagswahl wieder herauskommt.

An Verjährungsfristen ändert sich vermutlich nichts

Denn der Ausschuss hat dieses Gesetz – trotz vielfacher Aufforderung der Opposition – noch nicht ein einziges Mal diskutiert. Das bedeutet: An den Verjährungsfristen ändert sich vermutlich vorerst nichts – zu einer Wahl verfallen alle nicht fertig gestellten Vorlagen des Gesetzgebers.

Für Opfer wie Tina W. heißt das: Fälle des schweren sexuellen Kindesmissbrauchs, zu dem Beischlaf mit unter 14-Jährigen zählt, verjähren nach 20 Jahren, einfacher Missbrauch bereits nach zehn Jahren. Tina W., die keine Penetration durch ihren Vater erlebt hat, hätte spätestens bis zu ihrem 28. Geburtstag Anzeige erstatten müssen. Die meisten Opfer aber, das belegen Studien, können erst über das Erlebte reden, wenn sie älter als 40 oder sogar 50 sind.

Auch der Entschädigungsfonds, der vor Monaten allseits begrüßt wurde, steht bislang nur auf dem Papier. Mit dem soll Missbrauchsopfern aus dem familiären Umfeld unbürokratisch geholfen werden, wenn die etwa von der Krankenkasse keine Therapien bezahlt bekommen. Dafür hatte der Bund bereits 50 Millionen Euro zugesagt, weitere 50 Millionen Euro sollen von den Ländern kommen.

Der aber weigert sich zu zahlen: Solange nicht eindeutig geregelt sei, möglicherweise in einem Gesetz, wie Opfern über den Fonds schnell und unkompliziert geholfen werden kann, gibt es von uns nichts. Manuela Schwesig, SPD-Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern, sagt, dass die Opfer "zu Recht enttäuscht von der Politik" sind. Warum startet der Fonds nicht einfach ohne die Zuwendungen der Länder? Warum zahlen Krankenkassen keine Therapien?

Tina W. würde schon helfen, wenn sie die 60 Euro, die sie für jede Therapiestunde privat bezahlt, von der Krankenkasse wiederbekäme.

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