Serie „Wie es sein könnte“ (3): Der richtige Ton

Blicke, Barrieren, vorschnelle Schlüsse: Auf manches könnten Menschen mit Behinderung gut verzichten. Auf Assistenz allerdings nicht.

Ein Radfahrer und eine Rollstuhlfahrerin gehen gemeinsam durch einen Hauseingang

Assistenten bedeuten Freiheit Foto: Andi Weiland/ Gesellschaftsbilder.de

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wohl sein mag, sich selbst die Socken anziehen zu können. Oder sich spontan am Kopf zu kratzen. Man hebt ohne nachzudenken den Arm und kratzt sich, zack, fertig! Zwei Sekunden, maximal.

1994 sind meine Eltern aus der Provinz als Russlanddeutsche nach Hamburg gezogen und dann ging alles recht schnell: „Das Mädchen wird niemals laufen können, sie wird für immer auf fremde Hilfe angewiesen sein, hoffentlich erlebt sie ihren elften Geburtstag.“ Seit meinem siebten Lebensjahr ist die progressive Muskelerkrankung offiziell diagnostiziert: Körperlich werde ich immer auf Hilfe der Anderen angewiesen sein.

Jetzt bin ich neunundzwanzig und lebe selbstbestimmter denn je.

„Du kannst doch nicht mal deine Pizza allein schneiden“, sagten mir Menschen. „Vielleicht wäre eine WG für Behinderte was für dich?“

Menschen mit Behinderungen fordern immer wieder: „Nichts über uns ohne uns!“ Jedoch sind sie in den Redaktionsräumen des Landes kaum vertreten. Zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2016 präsentiert sich die taz am Vortag als Ergebnis einer „freundlichen Übernahme“.

Darin erzählen Autor_innen von sich. Davon, dass sie nicht „an den Rollstuhl gefesselt sind“ oder „an ihrem schweren Schicksal leiden“. Davon, wie es ihnen im Alltag und im Beruf ergeht. Koordiniert wird die Übernahme von Leidmedien.de. taz.mit behinderung – am Kiosk, eKiosk und natürlich online auf taz.de.

Seit dem Einzug in meine erste eigene Wohnung sind nun neun Jahre vergangen. Ich erinnere mich gut an das Gefühl, als ich dort die erste Nacht – in Anwesenheit einer mir noch unbekannten Assistentin – verbracht habe. Mit welchem Genuss ich den ersten Lebensmitteleinkauf getätigt habe, um anschließend die fast verbrannte Tiefkühlpizza zu essen. Heute arbeiten, um meinen Alltag zu sichern, sieben Assistentinnen in 24-Stunden-Schichten-Diensten für mich. Ich mache den Einsatzplan und die Abrechnung am Monatsende selbst, wenn es zwischenmenschliche Schwierigkeiten gibt, vermittelt keine Personalentwicklung zwischen uns.

Die Herausforderung besteht darin, wie bei jedem Topmanager auch, den richtigen Ton zu treffen, um die Mitarbeiter zu motivieren. Vierzig Assistentinnen waren bislang hier angestellt. Die meisten bleiben zwei bis fünf Jahre, so lange, bis sie einen „echten Job“ finden.

Es erfordert Flexibilität, sich auf die einzelnen Persönlichkeiten einzustellen. Immer und immer wieder, denn jeder braucht andere Kommunikationsarten. Am meisten lerne ich dabei über mich.

Sonntagnachmittag: Im Fernsehen läuft eine Reportage über die Gesetzesentwürfe zum neuen Bundesteilhabegesetz. Ich schaue fassungslos auf die Mattscheibe und kann nicht glauben, dass manche nicht verstanden haben, was für eine Freiheit die persönliche Assistenz allen Menschen mit einer körperlichen Einschränkung ist. Ich bitte meine Assistentin, mir ein Glas Wasser zu bringen und bin froh, dass ich die Möglichkeit noch habe.

Anastasia Umrik, Jahrgang 1987, ist Unternehmerin und bloggt auf anastasia-umrik.de

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