Serie „Wie es sein könnte“ (1): Unsichtbarer Schmerz

Blicke, Barrieren, vorschnelle Schlüsse: Auf manches könnten Menschen mit Behinderung gut verzichten. Mitreisende ohne Mitgefühl etwa.

Eine junge Frau in roter Jacke und ein Mann sitzen auf einem Koffer und wartet auf den Zug

Als junge Frau einen Sitzplatz einfordern? Da reagieren viele kalt und unsolidarisch Foto: dpa

Eilig laufe ich mit meinem großen Reisekoffer über das Gleis. Noch zwei Minuten, und die Türen des ICE schließen sich. Das erste Problem, mit dem ich es hier zu tun habe, ist, dass ich immer heimlich renne. Genauer gesagt: Nur ich weiß, dass ich es eilig habe.

Denn seit meine Wirbelsäule durch vier Titanschrauben und zwei ebensolche Stäbe ergänzt wurde, funktioniert das mit dem Rennen nicht mehr so. Wenn ich mich beeile, all meine Kraft zusammennehme, um beispielsweise einen Zug zu erwischen, ist das höchstens an meinem gequälten Gesichtsausdruck zu erkennen.

Aber auf Bahnhöfen gucken irgendwie alle gequält. In diesem Fall hatte ich Glück. Meine Beine trugen mich, die Rollen trugen den Koffer, und so standen wir dann vor der Zugtür, die zwei Stufen dahinter ein unüberwindbares Hindernis. „Entschuldigung“, sprach ich einen Herrn an, der gerade einstieg. „Wären Sie so freundlich, meinen Koffer hineinzuheben?“

Oft sage ich, dass ich rückengeschädigt bin, denn sieben Jahre nach meinen Operationen glaube ich noch immer, mich dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich – jung, weiblich und auf den ersten Blick kerngesund – nicht in der Lage bin, wesentlich mehr als einen Sixpack Bier zu heben. Ich kam nicht dazu, der Mann drehte sich um und entgegnete: „Nee, nee, junge Frau, wenn Se Ihren Koffer nich tragen können, dürfen Se nich so viel mitnehmen.“

Menschen mit Behinderungen fordern immer wieder: „Nichts über uns ohne uns!“ Jedoch sind sie in den Redaktionsräumen des Landes kaum vertreten. Zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2016 präsentiert sich die taz am Vortag als Ergebnis einer „freundlichen Übernahme“.

Darin erzählen Autor_innen von sich. Davon, dass sie nicht „an den Rollstuhl gefesselt sind“ oder „an ihrem schweren Schicksal leiden“. Davon, wie es ihnen im Alltag und im Beruf ergeht. Koordiniert wird die Übernahme von Leidmedien.de. taz.mit behinderung – am Kiosk, eKiosk und natürlich online auf taz.de.

Solche Situationen erlebe ich oft. Es werden Maßstäbe an mich angelegt, denen ich nicht entspreche. Seit sieben Jahren leide ich unter chronischen Rückenschmerzen, ich weiß nicht mehr, wie es sich anfühlt, keine zu haben. Wenn ich in vollen Bussen lange stehen muss, wünsche ich mir manchmal, ich sei alt und hutzelig. Da würde man mir dann einen Platz anbieten.

Stattdessen muss ich mich offenbaren, immer mit der Angst, nicht ernst genommen zu werden. „Nen Bandscheibenvorfall? Das kannste deiner Oma erzählen“, empörte sich vor vielen Jahren eine Frau, als ich vorsichtig fragte, ob ich mich setzen dürfe. Damals war ich 13. Mit 13 hat man einfach keinen Bandscheibenvorfall.

Voreilige Schlüsse ziehen wir alle, keine Frage. Doch erst wenn wir genauer hinsehen, ja, wörtlich versuchen, Einsicht in unser Gegenüber zu gewinnen – erst dann leben wir in Gemeinschaft miteinander. Oder anders formuliert: Wer Vor-urteile hat, sollte dringend nochmal nach-denken.

Julia Frick, Jahrgang 1990, ist Kulturanthropologin und Autorin

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