Schwerin spielt Saša Stanišićs Roman „Das Fest“: Keine Angst vor Abseitigkeiten

Regisseur Martin Nimz gelingt mit seiner Stanišić-Inszenierung eine ungeschönte, aber nicht minder zärtliche Liebeserklärung an die Weiten Ostdeutschlands.

Nicht nur schrullig: Notfalls verteidigen Stanišićs Dorfbewohner*innen die Nichtveränderung mit Gewalt Foto: Mecklenburgisches Staatstheater

SCHWERIN taz | Uckermark: Jetzt wird’s schön. Das steht auf einem Ortsschild vor dem fiktiven Dorf Fürstenfelde, Einwohnerzahl fallend, in dem der Hamburger Autor Saša Stanišić seinen 2014 erschienenen Roman „Vor dem Fest“ – recherchiert im brandenburgischen Fürstenwalde – angesiedelt hat.

Dort erzählt er die Nacht vor dem alljährlichen Annenfest und vor allem die mit Erinnerungen aufgeladene Geschichte eines Dorfes und seiner Bewohner, das nach der Wende in völlige Bedeutungslosigkeit versunken ist. Das Mecklenburgische Staatstheater eröffnet nun mit der Uraufführung der Bühnenfassung von Dramaturgin Nina Steinhilber und Regisseur Martin Nimz die Spielzeit 2017/18.

Sebastian Hannak hat dafür eine traumähnliche, detailverliebte Bühne gebaut, die sich im Laufe der Inszenierung immer wieder wandelt und doch nie verändert: eine kleine Gartenlaube am linken Bühnenrand, ein See im Hintergrund, der irgendwann zum Feld wird. Das morastige Ufer mit dem Schilf ragt bis in die erste Zuschauerreihe hinein, eine schräg nach hinten versetzte Videoleinwand dokumentiert das Fortschreiten der Nacht.

Nimz entwirft in der Bühnenfassung von Stanišićs verspielten und bewusst ausfransendem Text Tableaus, in denen er lose zusammenhängende tragikomische Miniaturen aus Fürstenfelde erzählt, die sich zu einer Zustandsbeschreibung dieses vergessenen Dorfes zusammenfügen, an dem die Bewohner zu sehr hängen, um es zu verlassen. „Uns gehört die Zeit“, sagt der stumme Suzi (Jochen Fahr), und in diesem Satz drückt sich der ganze Trotz der Dorfbewohner aus, die den Wandel der Zeiten beharrlich aussitzen.

Wer unbekannt ist und morgens in der Bäckerei Plunderteilchen isst, gilt als verdächtig und muss vermöbelt werden

Sie sind in ihren Geschichten verstrickt, in ihren Fotos, in die Ölgemälde von Dorfmalerin Ana Kranz (Anne Steffens), deren Motiv schon mal eine Sparkasse im Sonnenuntergang ist: „Sie bildet die Welt selbstgenügsam ab“, heißt es. Die Schauspieler bewegen sich zunächst wenig, Bewegung entsteht ausschließlich durch ihre Anordnung im Raum und Veränderungen im Bühnenbild. Der einzige inhaltliche Spannungsbogen ergibt sich aus der Frage, ob es am Ende der Nacht einen Selbstmord geben wird oder nicht.

Diese grundsätzliche Ereignislosigkeit hindert weder die Dorfbewohner noch die Zuschauer, sich Fürstenfelde zu entziehen. Die Einzige, die wegwill, ist die 18-jährige Anna (Hannah Ehrlichmann), aber auch ihr Weggang ist keine Flucht, sondern ergibt sich aus der Notwendigkeit des Studiums. Wehmütig geht sie an ihrem letzten Abend noch einmal alle Wege ab, am Ufer, durch die Felder.

Überhaupt hauen eher die Frauen ab als die Männer, und wenn sie dann ihre Existenzen in der Ferne in den Sand setzen, wird das hämisch kommentiert, während man bei einem Sterni für 80 Cent bei Ulli in der Garage sitzt, weil die letzte Kneipe vor Jahren dichtgemacht hat.

Im ersten Teil fragt man sich zunächst, ob diese zur Schau gestellte Passivität, das reine Erinnern, einen Theaterabend über drei Stunden trägt. Die ist zwar durchaus stimmig: Diese Menschen leben das Leben nicht, sie erzählen es, und das am liebsten in der Vergangenheit.

Auch die Romanvorlage lebt weniger von Dialogen als von Rückblicken, Zustandsbeschreibungen und Charakterisierungen ihrer Figuren. Allerdings funktioniert das reine Nacherzählen, so gerne es gerade in Romanadaptionen zurzeit praktiziert wird, auf der Bühne eigentlich nicht. Zum Glück steht der elegischen ersten Hälfte ein weitaus gestraffterer, teilweise kakophon-anarchischer zweiter Teil gegenüber.

Mit Respekt für die Menschen

Insgesamt ist „Das Fest“ ein wirklich gelungener Abend, vor allem, weil Nimz und sein Ensemble ein Gespür für und Respekt vor diesen einfachen, skurrilen, von der Geschichte überrollten Menschen haben, auch wenn sie ihre Nostalgie nicht teilen. Sie geben ihnen eine bemerkenswerte Empathie und Würde, und machen begreiflich, warum diese Menschen freiwillig in dieser Ödnis leben. „Wer schreibt denn die Geschichte?“ – „Wir“, darauf bestehen sie.

Zu den berührendsten Szenen gehört die Erinnerung des Witwers Imboden daran, wie er zu DDR-Zeiten zugelassen hat, dass sein Vater als Nazi denunziert worden ist: Er wollte nicht riskieren, vertrieben zu werden und seine Angebetete, das Fräulein Zieschke, nie wiederzusehen.

Lieber leiden und schweigen, als Fürstenfelde verlassen zu müssen. Lauter stille Dramen spielen sich in Fürstenfelde ab, die merkwürdigerweise weder brodeln noch ausbrechen, sondern von der Weite, der Leere, der Nicht-Veränderung einfach geschluckt werden.

Die Dorfbewohner werden dabei nicht nur als sympathisch und schrullig gezeichnet: Fremdenfeindlichkeit, die Bereitwilligkeit, die Nicht-Veränderung notfalls auch mit Gewalt zu verteidigen, wird durchaus sichtbar. Wer unbekannt ist, wie der Adidas-Mann, und morgens in der Bäckerei Plunderteilchen isst, gilt als verdächtig und muss vermöbelt werden. Rassismus ist als Thema im Subtext latent vorhanden, aber sowohl die literarische Vorlage als auch die Inszenierung enthält sich der üblichen Klischees über die ostdeutsche Provinz und die Ostdeutschen.

Durch die Konzentration auf die deutsch-deutsche Geschichte werden die Parallelen zum Zerfall Jugoslawiens allerdings ausgespart, die der in Bosnien geborene Stanišić in seinen Text eingewebt hat. Das ist ein bisschen schade, weil so eine rein regionale Geschichte erzählt wird. Der Bogen zu anderen europäischen Gegenden, die nicht viel mehr als ihre Erinnerung haben, geht leider verloren.

Das ist allerdings nur ein kleiner Wermutstropfen bei diesem wirklich schönen, klugen Theaterabend, der absolut keine Angst und keine Arroganz gegenüber den Abseitigkeiten der Provinz kennt. Und so ist Nimz’ Inszenierung vor allem eins: eine ungeschönte, aber deswegen nicht minder zärtliche Liebeserklärung an die unendlichen Weiten Ostdeutschlands.

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