Schule und Werkstatt: Weit von der richtigen Welt

Unsere Autorin war auf einer „Schule für Körperbehinderte“ – und unterfordert. Einen Weg, ihre Neugier zu stillen, sah sie nicht.

Eine Seifenblase

Irgendwann schaltet sich das Gehirn ab. Und obwohl man verträumt aus dem Fenster starrt, kann man dem Unterricht folgen Foto: suze/photocase

Eigentlich bin ich jeden Morgen gern in den Schulbus gestiegen. Meistens war ich die Erste, die abgeholt und die Letzte, die nach Hause gebracht wurde, weil es so von der Route besser passte. Das machte mir komischerweise nichts aus, unter der Voraussetzung, dass Steffi nicht in meiner Nähe saß, weil sie gerne, je nach Laune, um sich schlug oder ihren Kopf gegen die Scheibe donnerte – weshalb sie irgendwann einen gepolsterten Helm aufgesetzt bekam. Zum Glück.

Der Schulbus brachte mich bis zu meinem 16. Lebensjahr in die „Schule für Körperbehinderte“, wo ich von meinen damaligen Freund*innen umgeben war und manchmal, wenn ich Glück hatte, waren in meiner Klasse Zivis eingesetzt, an denen ich das Flirten und die Kommunikation im Allgemeinen üben konnte.

Erst als ich von den Nachbarskindern gefragt wurde, auf welcher Schule ich denn sei, und alle auf meine Antwort hin in Gelächter ausbrachen, fing ich an zu verstehen: Das, was ich als „Schule“ bezeichnete, entsprach nicht den Schulen meiner Freunde aus der Nachbarschaft.

Auf Hilfe angewiesen

Mit weit aufgerissenen Augen saß ich mit meinen Eltern in der Aula und ließ die Atmosphäre einer Schule erstmals auf mich wirken. Ich war sieben, erst seit einem halben Jahr in Deutschland, und konnte kein Deutsch – außer den beiden Sätzen: „Mein Name ist Anastasia.“ Und: „Ich muss mal.“

Was ich damals noch nicht ahnte: An dieser Schule war fast jeder auf Hilfe angewiesen. Und wenn nicht, dann mussten sie vieles für die „Hilflosen“ übernehmen, während die Sonderpädagogen in den Raucherzimmern saßen und achtzehn von zwanzig Minuten Pause qualmten und dabei Lehrpläne besprachen. Gerechtfertigt wurden diese Erziehungsmaßnahmen mit dem Vorwand, uns so in Teamfähigkeit und Sozialkompetenz zu stärken.

Der Unterricht verlief unfassbar langsam. Da saß ich als Kind voller Energie, Neugierde, Ideen und Lust am Wissen – und konnte es nicht ausleben. Irgendwann, ob man will oder nicht, schaltet sich das Gehirn ab, und obwohl man verträumt aus dem Fenster starrt und über die Teenagerproblematiken grübelt, lernt man nebenbei zig Vokabeln, kann dem Unterricht folgen und dabei sogar die mündliche Leistung auf dem höchsten Niveau halten.

Ich wurde immer gebremst aus Rücksicht auf die anderen, weil sie sich neben mir womöglich doof gefühlt hätten: ihrer Behinderung und den echten Ausmaßen dieser bewusst.

Mein Ziel: die Regelschule

Diese Schulform ist auf einer Lüge aufgebaut. Keiner spricht aus, dass diese Kinder und Jugendlichen wenig Chancen auf dem freien Arbeitsmarkt haben werden. Insgeheim werden die Arbeitsplätze in den Behindertenwerkstätten angefragt, freigehalten und bereitgestellt. Für ganze 150 Euro im Monat.

Menschen mit Behinderungen fordern immer wieder: „Nichts über uns ohne uns!“ Jedoch sind sie in den Redaktionsräumen des Landes kaum vertreten. Zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2016 präsentiert sich die taz am Vortag als Ergebnis einer „freundlichen Übernahme“.

Darin erzählen Autor_innen von sich. Davon, dass sie nicht „an den Rollstuhl gefesselt sind“ oder „an ihrem schweren Schicksal leiden“. Davon, wie es ihnen im Alltag und im Beruf ergeht. Koordiniert wird die Übernahme von Leidmedien.de. taz.mit behinderung – am Kiosk, eKiosk und natürlich online auf taz.de.

Die Leute bleiben in ihren Blasen, sie erfahren gar nicht erst, wie es sich anfühlt in der „richtigen, schönen, großen Welt“. Der Ablauf scheint klar: Sonderschule, Behindertenwerkstatt, WG für Behinderte, Ausflüge in großen Gruppen.

„Ich möchte auf eine Regelschule. Ich kann das!“, sagte ich in regelmäßigen Abständen. „Aber wer soll dir aus der Jacke helfen? Wer holt dir die Stifte aus dem Rucksack?“, verunsicherte mich die Klassenlehrerin. „Die gesunden Kinder sind bestimmt nicht so nett wie unsere hier.“

Ich blieb. Aus Angst, abgewiesen zu werden, ohne zu probieren, ob es auch so sein würde.

Meine Lieblingsmitschülerin war Sandra, die jeden Morgen mit einer gelben Schüssel auf dem Schoß und weiß um die Nase in das Klassenzimmer gerollt kam. Sie wohnte hinter Hamburg und hatte einen sehr langen Weg zu der Schule.

Manchmal wurde ihr während der Fahrt schlecht, und damit sie sich nicht selbst anspuckte, hatte sie diese Schüssel dabei. Manchmal weinte Sandra, einfach so. Dann musste sie jemand in den Arm nehmen und ihr ein Taschentuch reichen. Sie war ehrlich und frei in ihren Empfindungen – das habe ich von ihr gelernt und dafür bin ich dankbar.

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