Schau zu Kunstkritik und Oscar Wilde: Entspann dich und genieß die Kunst

Ästheten und Querulanten gegen Denkverengung: Oscar Wilde wird wieder gebraucht! Das zeigt die Ausstellung „The Critic as Artist“ in Reading.

Das Bild einer blassen Frau mit roten Haaren, die angeödet ins Leere guckt on sitzt auf einem Treppenabsatz, hinter ihm hängt ein blasses Bild

Wenn die Kunst ins Leere guckt, kann die Kritik zu ihrer Höchstform auflaufen Foto: Owen Williams

Trägheit wird zur höchsten Form der Kritik. Wir glauben an Ästheten und Querulanten.“ Das ist der erste des 21 Punkte umfassenden Manifests „The Critic as Artist“, das der Brite Andrew Hunt eigens zur Ausstellung gleichen Titels verfasst hat, die derzeit beim Reading Arts Festival in England zu sehen ist.

Hunt, Autor und einer der künstlerischen Leiter des Festivals, hat den Ton der 21 Forderungen im Duktus klassischer politischer Manifeste gehalten. Er wendet sich darin gegen die gängige Praxis, Kunstwerke allein nach ihrem Gebrauchswert zu beurteilen.

Ausstellung und Manifest feiern den irischen Schriftsteller und Dramatiker Oscar Wilde und seine theoretischen Schriften über Ästhetizismus und Kunstkritik. Seinem berühmten Essay „Der Kritiker als Künstler“ von 1891 gab Wilde den Untertitel „Mit einigen Anmerkungen über die Wichtigkeit, nichts zu tun“.

„Wilde schwebte vor, dass man sich der Kontemplation hingeben, sich zurücklehnen und Kunst auf sich wirken lassen sollte. Das sei die modernste und erstrebenswerteste Form der Kritik. Und selbstverständlich ist es, wie beinah alles, was Oscar Wilde betrifft, ein ernster Witz“, sagt der Londoner Schriftsteller und Kulturkritiker Michael Bracewell, der die Ausstellung gemeinsam mit Hunt kuratiert hat.

„Kunstkritik denkt heute selbstgefällig“

„The Critic as Artist“, Reading Museum, bis 28. Januar 2018.

Zu sehen sind Werke von 17 britischen KünstlerInnen, Zeitgenossen Wildes und heutige. Die groß- und kleinformatigen Gemälde, Zeichnungen, Installationen, Fotos und Collagen sind über alle Räume und das Treppenhaus des Reading Museum verteilt. Scheinbar absichtslos sind die Werke inmitten der permanenten Kollektion des Museums und seiner antiken Kunstwerke platziert.

Das Manifest ist ein raffiniertes Spiel mit den Konventionen, erklärt Michael Bracewell: Einige von Wildes Thesen sind wortwörtlich übernommen. „Die heutige Kunstkritik denkt insular und ist selbstgefällig, alles ist bierernst. ‚Oh, schau mal, das kommentiert doch Donald Trump.‘ Das Manifest sagt dagegen: 'Nein, entspann dich! Genieß die Kunst, lehn dich zurück, denn dabei lernst du weit mehr, als wenn du ausschließlich hochtrabende Theorien auf ein Ausstellungsstück projizierst.“

Während seiner Haft in Reading schrieb Wilde über das Leid im Gefängnis

Der Name des 1854 in Dublin geborenen Oscar Wilde ist verbunden mit Klischeevorstellungen von Dandytum und fancy Bonmots wie „Ich habe einen ganz einfachen Geschmack: Ich bin immer nur mit dem Besten zufrieden“, der heute von der Geschenkeindustrie vereinnahmt wird. Mit „Das Bildnis des Dorian Gray“ (1891), seinem einzigen, düster gruseligen Roman über einen jungen Hochstapler, hat Wilde einen gesellschaftskritischen Kommentar zur hedonistischen englischen Upperclass im Viktorianischen Zeitalter abgeliefert – und die Homoerotik in die englische Literatur eingeführt.

Wilde selbst wurde für seine Homosexualität 1895 zu zwei Jahren Zuchthaus in Reading, einer kleinen Stadt westlich von London, bestraft. Der mondän auftretende, wortgewandte Literat war nach seiner Entlassung ein gebrochener Mann und starb 1900 verarmt im Pariser Exil.

„Nicht nur schwul, auch brillant“

„In England wird Oscar Wilde hauptsächlich als Märtyrer im Kampf für die Rechte von Homosexuellen wahrgenommen. Diese Art der Erinnerungskultur empfanden wir als zu einseitig. Denn Wilde war ja nicht nur schwul und deshalb im Gefängnis. Er war auch ein brillanter Theoretiker, äußerst unterhaltsam noch dazu“, sagt Brace­well.

Während seiner Haft in Reading schrieb Wilde „De Profundis“, einen an seinen Liebhaber Lord Alfred Douglas gerichteten buchlangen Brief. Es ist eines der „packendsten Dokumente menschlichen Leidens und menschlicher Selbstüberwindung“, wie Gisela Hesse im Nachwort der deutschen Ausgabe schreibt. Wilde ästhetisiere darin das Leid, das er im Gefängnis erlebte – insbesondere die Umgangsweise mit inhaftierten Kindern schockierten ihn – und wandle es damit in eine Kunstform um. 2016 richtete eine Ausstellung im seit nun vier Jahren leer stehenden Gefängnis von Reading das Augenmerk auf diesen Teil von Wildes Leben und Werk. Stars wie die US-Musikerin Patti Smith und der Schauspieler Ralph Fiennes lasen „De Profundis“ am Ort seiner Entstehung vor.

Bracewell und Hunt hingegen fokussieren auf den anderen, den anarchischen Wilde, der im Vorwort zu „Das Bildnis des Dorian Gray“ grundlegende Gedanken zum Ästhetizismus äußert. Sie gipfelt im Satz: „Alle Kunst ist völlig nutzlos.“

Entsprechend haben die Kuratoren anarchische und ästhetische Künstler zusammengebracht. Im schmalen, mit Teppich ausgelegtem Treppenhaus zieht „Catherine“ (2008) die Blicke auf sich: Im Gemälde von Alessandro Raho steigt eine Frau eine von Grünpflanzen umrankte Treppe hinauf, den Blick über die Schulter nach hinten gerichtet, ins Leere. Sein Porträt von „Jessica“ (2010) im Raum nebenan zeigt eine Jugendliche mit Sneakers und Freizeit-Bekleidung vor einer Blümchentapete. Das Arrangement erinnert an eine Aufnahme in einem zweitklassigen Fotostudio. „Raho ist ein Künstler, dessen großformatige Porträts in erster Linie schön sein wollen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen“, sagt Bracewell.

Boshaft, ohne Angst vor der Obrigkeit

Ebenfalls über mehrere Räume verteilt hängen drei rare Bilder des präraffaelitischen Malers Simeon Salomon. Er war ein Zeitgenosse Wildes, der als Jude, Alkoholiker und Homosexueller klar als ein Außenseiter in der viktorianischen Gesellschaft galt. Oscar Wilde sammelte einst dessen zeitlos schöne Gemälde.

In einer Vitrine ist Keramikgeschirr aus der Zeit des Ästhetizismus zu sehen. Es stammt aus der Sammlung des Künstlerpaares Gilbert & George, die, wie Bracewell anmerkt, interessanterweise anarchische Anti-Künstler seien, ihre Vorliebe als Sammler jedoch ganz der viktorianischen Ästhetik und präraffelitischen Kunst gehöre.

Unter dem Geschirr liegt ein Buch aus. Es zeigt ein Storyboard, lila Zeichnungen über Oscar Wilde und lila Schrift. Es stammt von Malcolm McLaren, dem berühmt berüchtigten Manager der Sex Pistols und Künstler, der, ausgestattet mit Geld aus Hollywood, ein Rock-’n’-Roll-Musical über Oscar Wilde machen wollte, angesiedelt im Wilden Westen: „The Wilde West: A Hollywood Tale“. Bracewell nennt McLaren eine Wilde’sche Figur im reinsten Sinne: Dandy, sprühend vor Witz, ein brillanter Redner, ein Querulant. McLaren hatte Teile seines Storyboards 2005 im US-Musikmagazin ­Dazed and ­Confused veröffentlicht.

Passend, dass der britische Punkpoet Bertie Marshall bei der Ausstellungseröffnung performt, mit Megafon setzt er sich auf eine der beiden ins Nirgendwo ansteigenden Holztreppen-Installationen von Marc ­Camille Chaimowicz, „A Room For Wilde“ (2017), gibt mal belfernd, mal sonor lesend Gedichte zum Besten, aber auch weitgehend sinnfreie Lyrics aus Songs von Lana Del Rey. Auch das gibt dem Gedenken an Oscar Wilde einen Rahmen, der boshaft zuspitzen und zitieren konnte, sich furchtlos mit der Obrigkeit anlegte. Während der Ausstellung werden immer wieder PerformerInnen dort Wilde-Texte ihrer Wahl rezitieren. Chaimowicz hat die begehbaren Treppen so installiert, dass sie Raum für die Arbeiten der anderen KünstlerInnen schaffen.

Der Kritiker? Muss kreativer sein als der Künstler!

Zentral im Raum hängt „Like a Painting #1“ (2005) des Modefotografen Miles Aldridge. Der chromogene Druck zeigt eine porzellanhäutige junge Frau im Halbprofil, Frisur und Gewand sind viktorianisch, die Wangen gerötet, der leere Blick gesenkt, Schmetterlinge umflattern sie, zusammen mit den algenartigen Stickereien auf ihrem Kleid und der Blumenhecke im Hintergrund leuchtet das Bild vor morbider Schönheit. „In the Garden“ (2017) zeigt subtile Abweichung: Die im viktorianischen Stil abgebildete Schöne hat eine Brust entblößt. Die 1979 in Belfast geborene Donna Huddleston bringt mit der schemenhaften Zeichnung „Oscar and Nico“ (2017) zwei Stilikonen zusammen.

Die feministische Künstlerin Linder, die in der Punk- und Postpunkszene Manchesters groß geworden ist, ist mit der Collage „Johnny Ray“ (2017) vertreten. Unter einem Foto des amerikanischen Sängers, der mit hochemotionalen Auftritten zu Beginn der 50er Jahre großen Erfolg hatte, prangt ein Cover eines Schwulenmagazins, die Scham des nackten, kopflosen Mannes ist mit einer Rose überdeckt. Drumherum schwirren auch hier Schmetterlinge, Schlangen künden von der Vertreibung aus dem Paradies, eine Eule, Symbol für Weisheit und Klugheit, blickt gütig auf die Betrachter. Ausgeschnittene Münder mit geöffneten Lippen sind über die Collage verstreut.

Bracewell wollte Wildes Ideen aus dem 19. Jahrhundert mit der Kunst aus dem 21. Jahrhundert in Verbindung bringen. Diese Herangehensweise hat sich, wie er sagt, als sehr erfrischend erwiesen, denn im 21. Jahrhundert betrachtet die Kritik Kunst und Musik eher aus philosophischem Blickwinkel oder von marxistischer Theorie untermauert. Wilde forderte ganz einfach „Drück deine Gefühle aus, zeichne deine Sinneseindrücke auf“. Wenn der Kritiker damit kreativer ist als das beurteilte Werk, hat er die höchste Form der Kritik erreicht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.