Saisonstart an Hamburger Staatsoper: Mit Kraftausdrücken, ohne Rückenlehne​

Mit „Weine nicht, singe“ vom Schweizer Komponisten und Schlagzeuger Michael Wertmüller wird die Hamburgische Staatsoper ihrem Anspruch auf Innovation gerecht​

Opernszene

Das Geschehen direkt vor der Nase und im Ohr: zwei Gänge statt einer Bühne. Foto: Hans Jörg Michel

HAMBURG taz | Viel vor hat Georges Delnon, gebürtiger Berner und neuer Intendant der Hamburgischen Staatsoper. Neben den üblichen Phrasen über die bedeutende Operntradition Hamburgs und die hiesige Weltoffenheit, die es auf die Bühne zu übertragen gälte, war in Interviews, Reden und Berichten zur aktuellen Spielzeit auch ausdrücklich die Rede von inhaltlicher Politisierung, Innovation und „Oper als multimedialer Kunstform“. Zugleich gehe es darum, so Delnon am vergangenen Wochenende im Hamburger Abendblatt, diese Kunstform möglichst vielen Menschen jenseits des Elfenbeinturms zugänglich zu machen: „zu überzeugen und zu verführen“.

Die angekündigte Politisierung der Inhalte ist angesichts zweier Kriegsdramen zum Saisonstart kaum zu übersehen: Im großen Haus eröffnete Kent Nagano am vergangenen Samstag die neue Spielzeit mit Hector Berlioz‘ „Les Troyens“, tags darauf wurde in der Opera stabile Michael Wertmüllers Oper „Weine nicht, singe“ uraufgeführt, die sowohl musikalisch als auch inszenatorisch innovative Ansätze auffährt.

Um die von Krieg und Entfremdung zerrüttete Familiengeschichte einer Fünfzehnjährigen aus der Levante dreht sich das Libretto von Dea Loher. Mit dem Auftritt Miras (Tina Keserovic) beginnt das Stück und auf ihre ersten Worten folgt die erste Überraschung: „Pssst, leise, Zeno schläft! Pssst!“, zischt sie aus dem Nichts auftauchend in den noch voll beleuchteten, mit schwarzem Granulat übersäten Raum. In dem sitzen die Zuschauer nicht wie üblich in geordneten Stuhlreihen, sondern locker im Saal verteilt auf dunklen Quadern, einige davon mit Patronenhülsen großkalibriger Waffen „geschmückt“. Dann geht das Licht aus.

Statt auf einer Bühne agieren die Darsteller in zwei Gängen, die unmittelbar an den Sitzplätzen vorbeiführen. Das zuweilen temperamentvolle Geschehen spielt sich so direkt vor den Nasen der Zuschauer ab. Beeindruckend ist es, den vollen Tenor von Miras vermeintlichem Vater Ron (Jürgen Sacher) aus einem Meter Entfernung zu hören.

Spannend ist es auch, dem Musikalischen Leiter Titus Engel bei seiner Arbeit zuzusehen: wie er die an die Wand projizierte Partitur verfolgend seinen Bewegungsradius immer weiter ausdehnt und dabei fast zum Nebendarsteller wird. Im Verlauf des Stücks wird er sogar ein Mal regelrecht zu Boden gerissen. Woanders mag man über solche Anwandlungen müde lächeln. Aber wir sind hier nicht auf Kampnagel oder am Schauspielhaus, sondern in der Oper, der hamburgischen wohlgemerkt. Und die gilt eigentlich als stockkonservativ.

Der „experimenteller“ ausgerichteten Opera stabile ist Neue Musik, die viele als schräg bezeichnen würden, hingegen nicht fremd. Aber auch in dieser Hinsicht spannt „Weine nicht, singe“ den Bogen noch etwas weiter. Das „Orchester“ besteht aus drei Streichern und einem Klarinettisten des Ensemble Resonanz sowie dem – dass man das noch erleben darf! – Schweizer Free-Jazz-Trio Steamboat Switzerland. Beide Gruppen sind zunächst getrennt voneinander an gegenüberliegenden Wänden positioniert und werden später im Stück zusammengeführt.

Wertmüllers Komposition verlangt nicht nur dem Publikum, sondern auch den Musikern einiges ab: komplexe Polyrhythmik, abrupte Atmosphären-Wechsel, irritierende Sub-Bässe und andere Geräusche; viele, schnelle Noten, aber auch lärmende Stille, wie zum Beispiel beim eindringlichen Monolog von Miras Großvater Zeno, einem der Höhepunkte gegen Ende der Inszenierung: „Mama, Mama, Massaker, ich habe genug von eurem Scheißkrieg, ihr verfickten Regierungsvertreter ...“ Ob solch ein Vokabular in diesen ehrwürdigen Räumen vorher schon mal verwendet wurde?

Wer Wertmüllers musikalischen Werdegang kennt, kann sich über seine fordernde Musik zu „Weine nicht, singe“ nicht wundern. Der 49-jährige Schlagzeuger aus Thun studierte Jazz und Komposition in Bern, Amsterdam und Berlin. Neben seinem Studium war er Mitglied im Berner Sinfonieorchester, Gast in anderen Sinfonieorchestern, zum Beispiel im renommierten Concertgebouw Orkest Amsterdam.

In den 1990er-Jahren spielte Wertmüller außerdem mit der Band Alboth! eine grandiose und bis dahin ungehörte Fusion aus Free Jazz und Grindcore. Seit vielen Jahren bildet er zusammen mit dem Bassisten Marino Pliakas (Steamboat Switzerland) und dem Saxofonisten und Euro-Free-Jazz-Miterfinder Peter Brötzmann das Trio Full Blast (die im Dezember im Golem zu sehen sind). Was immer Wertmüller anpackte: Nie ging es dabei um leicht verdauliche, nebenher zu konsumierende Musik.

Wertmüllers Komposition, Florian Lösches beeindruckendes Bühnenbild und die Inszenierung durch Regie-Shooting-Star Jette Steckel fügen sich in „Weine nicht, singe“ zu modernem und freigeistigem Musiktheater zusammen, das auf selbstverständliche Art mit den Konventionen bricht, ohne in prätentiösen Firlefanz zu verfallen. Falls es ihn gibt, dürfte der fortschrittlichere Teil des Hamburger Publikums an so was Gefallen finden. Und sollte Georges Delnon seine Ansagen ernst meinen und mit seinem Ansatz Erfolg haben, wäre er nach Rolf Liebermann der zweite Intendant aus der Schweiz, der dabei geholfen hätte, die hiesige Oper ein bisschen aufzumöbeln.

Nächste Aufführungen: Mi, 30. 9., bis Fr, 2. 10., 20 Uhr, Hamburgische Staatsoper/Opera stabile, Kleine Theaterstraße 1

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