Rückkehr in die Sperrzone bei Fukushima: „Es wird schon okay sein“

Naraha darf als erste Stadt in der Sperrzone wieder besiedelt werden. Fast alle Schäden sind repariert, aber überall stehen Strahlenmesser.

Ein älterer Mann erzählt, im Vordergrund eine Teekanne, im Hintergrund Familienportraits

Azuma Hashimoto, 72, bei der Rückkehr in sein Zuhause in Nahara, Februar 2015. Foto: reuters

NARAHA taz | Jeden Morgen versammelt sich eine Gruppe städtischer Angestellter im Rathaus von Naraha zu einer Besprechung. Dann ziehen sie zu zweit los und suchen in den Wohnvierteln nach neuen Rückkehrern. Sie wollen sie registrieren und fragen, was sie brauchen. Diesmal treffen Kumiko Watanabe und ihre Helferin einen alten Mann in seinem Garten. „Wie geht es Ihnen?“, fragt Watanabe mit warmer Stimme. Der antwortet erst mit „Alles prima“. Aber als der 87-Jährige erzählt, dass er ohne seinen Sohn zurückgekehrt ist, bricht er in Tränen aus. Watanabe versucht den weinenden Alten zu trösten. „Bald kommen ja alle wieder!“, verspricht sie.

Doch das ist bisher nur eine Hoffnung. Fast alle Beben- und Tsunami-Schäden in der Kleinstadt sind repariert, Bahnstrecke und Straßen instandgesetzt, Böden und Häuser dekontaminiert. Vor sechs Monaten beschloss die Regierung, dass Naraha als erste von sieben Städten, die im März 2011 komplett evakuiert wurden, wieder besiedelt werden darf. Das Leben dort wurde offiziell und entgegen allen Zweifeln für sicher erklärt. Am 5. September wurde der Evakuierungsbefehl aufgehoben. Ein halbes Jahr später sind erst 440 der 7.400 Exbewohner zurück, davon zwei Drittel im Seniorenalter über 60. Die Stadt begrüßt jeden Rückkehrer mehr oder weniger einzeln.

Bei Reiko Oshikane war die Sehnsucht nach dem alten Leben so groß, dass sie für die Rückkehr einen guten Job gekündigt hat. Der Tsunami hatte ihr anderthalb Kilometer vom Meer entferntes Haus überschwemmt, aber sie und ihr Mann haben es inzwischen instandgesetzt. Ihre Angst vor der Strahlung unterdrückt die 58-Jährige. „In die Berge hinter Naraha sollte ich wegen der hohen Radioaktivität eigentlich nicht gehen“, erzählt sie. „Dann sage ich mir, es wird schon okay sein, ich habe sowieso nur noch dreißig Jahre zu leben.“ Ihr Kalkül klingt zynisch und ist doch rational. Im Rathaus, im Badehotel, an der Straße – in Naraha stehen überall Strahlenmesser. Ihre roten Digitalziffern zeigen Werte von 0,1 bis 0,2 Mikro-Sievert pro Stunde. Das ist deutlich höher als vor dem Unfall, aber aufs Jahr hochgerechnet nur doppelt so viel wie die international empfohlene Dosis.

Doch der einzige zurückgekehrte Arzt von Naraha, Kaoru Aoki, hält die Sorgen der früheren Bewohner für berechtigt. „Uns Japanern wurde immer gesagt, dass Atomkraft sicher ist, aber dann gab es diese schreckliche Katastrophe“, sagt er. Die Mehrheit könne daher den Behörden nicht mehr glauben. Der Staat sollte die Bürger besser schützen, verlangt der Arzt. Das gefährliche Strontium 90 sollte man aus dem Trinkwasser filtern, die nicht dekontaminierten Gebiete sperren und dort Warnschilder aufstellen.

Alle haben ein Dosimeter dabei

Man könnte die Gefahr leicht vergessen, da radioaktive Strahlung nicht zu sehen, riechen und schmecken ist. Aber jeder Bewohner trägt immer ein Dosimeter bei sich. Und da gibt es noch Tausende schwarzer Säcke mit den Abfällen der Dekontaminierung auf zahlreichen Flächen rings um Naraha. „Wer will, dass die Bewohner zurückkommen, muss sämtliche Abfälle abtransportieren“, meint Aoki.

Selbst das dürfte nicht ausreichen, um Jüngere und Familien zurückzulocken. Es mangelt auch an Arbeitsstellen, Freizeitmöglichkeiten, Kindergärten und Schulen. Bürgermeister Yukiei Matsumoto macht sich keine Illusionen: „Der Wiederaufbau von Naraha startet nicht bei null, sondern im Minusbereich.“ Etwa in der Landwirtschaft. Fukushima war früher bekannt für Reis und Pfirsiche, heute ist die regionale Herkunftsbezeichnung ein Stigma. Stolz zeigt der Bürgermeister auf Wandfotos von ihm und Premier Shinzo Abe. „Unser Regierungschef hat vor der Presse Reis und Lachs aus Naraha gegessen, um den Ruf unserer Produkte zu verbessern“, erzählt er.

Matsumoto hat das Altersheim renovieren lassen. Mit einem Dutzend Rückkehrer als Bewohnern wurde es eröffnet. Im Februar folgte ein Krankenhaus, ein Hotel wurde ausgebaut. Die Grundschule wird im Frühjahr 2017 fertig. Für die geplante Einkaufsstraße mit Super- und Baumarkt fehlt aber ein Betreiber.

„Wir haben ein Henne-Ei-Problem“, sagt Kaoru Saito, Generalsekretär der lokalen Handelskammer. „Ohne Geschäfte keine Rückkehrer, ohne Rückkehrer keine Geschäfte!“ Er fordert garantierte, zinslose Kredite gegen das Insolvenzrisiko. Die Zahl der Beschäftigten im Industriepark von Naraha ist von früher 800 auf 10 Mitarbeiter gesunken. Saito versucht es mit einem Appell: „Die Familien sollten nicht über Strahlung, Geld und Infrastruktur nachdenken, sondern wie sie als Familie weiterleben wollen.“ Er rechnet damit, dass in den nächsten fünf Jahren mehr als ein Drittel der Menschen zurückkehrt.

Bürgermeister Matsumoto reagiert aufmerksam auf die Wünsche der Rückkehrwilligen. Nach Beschwerden über die tiefe Dunkelheit installierte die Stadt 1.000 besonders helle LED-Lampen. „Die Evakuierten sollen merken, was für ein guter Platz Naraha zum Leben ist“, sagt Matsumoto.

Am Tropf der Atomindustrie

Ein Dilemma kann der Politiker nicht auflösen: Die Stadt lebte einst von der Atomindustrie – und hängt jetzt wieder an deren Tropf. Vor dem Unfall wurde der städtische Haushalt zu 60 Prozent durch Zahlungen des Stromversorgers Tepco und staatliche Zuwendungen für die Akzeptanz der Atomanlagen finanziert. Der Großteil der Einwohner arbeitete direkt oder indirekt für die zwei Tepco-Kraftwerke mit zehn Reaktoren. Bei dem Unfall wurde Naraha die AKW-Nähe zum Verhängnis. Aber jetzt kommt mehr als die Hälfte der Einnahmen weiter von Tepco. Neue Jobs entstehen vor allem durch die Stilllegung der Reaktoren. Das AKW ist eine riesige Baustelle mit 7.000 Arbeitern täglich.

Auch Kentaro Aoki sieht hier Chancen. Der 26-Jährige arbeitet für eine Kooperative, die am neuen Hafen von Naraha Lachse züchtet. Zuvor hatte Aoki drei Jahre lang bei den Aufräumarbeiten im zerstörten AKW geholfen. „Wenn Tepco mich heute wieder anriefe, würde ich wohl nicht Nein sagen“, meint er unbekümmert. Die Arbeit sei ein „bisschen gefährlich“ und seine Eltern dagegen, aber sie sei gut bezahlt. Wie fast alle Rückkehrer von Naraha zögert er mit Kritik an der Atomkraft. Die reparierten Reaktoren an der Küste könne man noch nutzen.

Zwei Drittel der wenigen Rückkehrer nach Naraha sind bereits im Seniorenalter

Bürgermeister Matsumoto will den Betreiber Tepco nicht an den Pranger stellen: „Es hat an Sensibilität für Sicherheit gefehlt“, antwortet er auf Nachfrage. Aber das sei für ihn eine Sache der Vergangenheit: „Nach fünf Jahren möchte ich mich auf die Zukunft konzentrieren und Fortschritte machen.“ Im Neuaufbau von Naraha zeigt sich die japanische Neigung, Schlechtes durch Wegschauen zu ignorieren. Das entlastet die Seele und erleichtert den Alltag. Man vermeidet allerdings auch, aus Fehlern zu lernen und neue Wege zu finden.

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