Roman über rebellierende Jugendliche: Flippern verboten

Politik, Wut und Liebe: Tijan Silas Roman „Die Fahne der Wünsche“ behandelt die Gefahr jugendlichen Begehrens für totalitäre Systeme.

Das Foto in schwarzweiß zeigt drei arbeitslose Jugendliche in Berlin-Kreuzberg im Jahr 1982. Sie trinken Bier und spielen Flipper

In Tijan Silas Roman ist Flippern eine Flucht. Für die arbeitslosen Jungs in Kreuzberg, 1982, auch Foto: Paul Glaser

„Tränen ins Feuer“, sagen die Helden dieses Romans, wenn sie ihrer Bestürzung Ausdruck geben wollen. Vielleicht kann man diese Formel auch mit „was soll’s“, oder noch etwas expliziter mit „scheiß drauf“ übersetzen. „Tränen ins Feuer“, sagt sich vielleicht auch Tijan Sila angesichts des Vorwurfs, seine Protagonisten kämpften nicht mit sich, seine Satire sei flacher als die Wirklichkeit.

Dabei kann man von Silas zweitem, wieder bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Roman, „Die Fahne der Wünsche“ (320 Seiten, 22 Euro), viel lernen, ohne je belehrt zu werden. Etwa über den Zusammenhang zwischen der Beschwörung der Größe der Nation und der brutalen Unterdrückung des Einzelnen: „Ihr seid wir und wir sind ihr.“ Über den Zusammenhang von Männlichkeitswahn, Homophobie, Frauenhass und systemischer Gewalt. Und über die Sprengkraft, die jugendliches Begehren für Systeme mit Totalitätsanspruch darstellt – gerade weil solche Regime ihre Kraft aus ihm beziehen.

Ambrosio, der Ich-Erzähler, berichtet von seiner Jugend in einem untergegangenen Regime, das sein Land Crocutanien einst fest im Griff hatte. Crocutanien könnte Jugoslawien nachempfunden sein, dessen Versinken in einen von nationalistischen Hetzern begonnenen Krieg einer der Gründe sein mag, dass Tijan Sila solche Romane schreibt. Er wurde 1981 in Sarajevo geboren und emigrierte 1994 nach Deutschland.

Crocutanien könnte aber auch ein faschistisches Land sein. Die Slogans des Spiroismus, der in Crocutanien herrscht, bleiben ambivalent, auch wenn die sozialistische Tradition stärker zu sein scheint: „Arbeit für alle – Leistung von allen!“ Oder: „Klassenmacht! Klassenmacht! Klassenmacht!“

„Die Fahne der Wünsche“, Kiepenheuer & Witsch, 320 Seiten, 22 Euro

Im Zuge eines Putsches, in dem Ambrosio ungewollt eine zentrale Rolle spielte, konnte er das Land verlassen, um anderswo das zu werden, was er immer werden wollte: ein gefeierter Radrennprofi. Seine psychisch kranke Mutter musste er zurücklassen, er hat sie nie wieder gesehen. Sie verhungerte in einem Pflegeheim des Regimes.

Nicht mehr mein Junge

Die psychische Krankheit der Mutter ist eine Allegorie auf die Entfremdung zwischen Eltern und Kindern während der Pubertät, die in einem totalitären Rahmen eine totale sein muss. Die Mutter bezeichnet Ambrosio als Geisel. Er sei „eine Puppe, die man anstiftet, und nicht mehr mein Junge“. Sie wiederum erscheint dem jungen Mann nach dem Tod des Vaters als unzugänglich und paranoid.

„Die Fahne der Wünsche“ erzählt also rückblickend über einen Jugendlichen, der sich über seine Leidensfähigkeit beim Radfahren definiert, der sich verliebt, zum ersten Mal Sex hat und in der angeblichen klassenlosen Gesellschaft Anschluss an die herrschende Klasse findet, die in ihm aber nur ein Werkzeug sieht, dessen man sich bedienen kann.

In Crocutanien üben Kommissare und die „Mäntel“, volkstümlicher Begriff für die Sicherheitsorgane, ihre willkürliche Herrschaft aus. Bald machen sie Ambrosio durch Gewalt und Erpressung zum Spitzel, der die Untergrundkultur des Flipperns ausforschen soll. Ambrosio macht mit. Er weiß, was er tut. Er verrät seine Freunde, aber was soll er machen?

Die sich selbst als „Freie Jugend“ bezeichnenden Jugendlichen teilen sich in zwei Gruppen. Da gibt es zum einen die „Mobilen“, die sich in „Squadronen“ zusammenschließen und untereinander bekriegen, und zum anderen eben jene Kids, die sich dem Flippern verschrieben haben und sich auch nicht davon abhalten lassen, als Flippern zu einer „besonders schädlichen Ablenkung“ erklärt und verboten wird.

Lungern, trinken, Comics lesen

Die Freie Jugend hält sich an einem Treffpunkt auf, der schlicht „Kopf“ genannt wird. Es ist eine auf der Seite liegende Plastik des Haupts des verstorbenen Marschall-Vaters Spiro, auf dem die Jugendlichen herumlungern, Bier trinken und Comics lesen.

Ein Flügel der Spiroisten lehnt das Denkmal ab, weil es den Eindruck erwecke, jemand habe Spiro enthauptet. Wer den Kopf einmal auf diese Weise betrachtet habe, könne ihn fortan nicht anders wahrnehmen. „Orthodoxe Kader hielten dagegen, dass jedes Bildnis Spiros zuallererst Ehrfurcht gebiete. Die eigentliche Häresie stellte vielmehr die Vorstellung dar, Spiro sei geköpft worden. Wie kamen die Kameraden darauf? Spiro war an Bauchspeicheldrüsenkrebs verstorben, selbst Schulkinder wussten das. Wer sich Spiros Enthauptung vorstellte, der wünschte sie sich auch!“

Je nachdem, welche Fraktion gerade das Sagen hat, ist der Aufenthalt der Teenager auf dem Kopf geduldet oder strengstens verboten. Eine schöne Satire auf die Lächerlichkeit von Flügelkämpfen, die jede starre Ideologie irgendwann wie ein Fieber befallen.

Doch es sind die Dynamiken und Regeln von Jugendkulturen, die sich durch Mode, Musik und eigene Codes von der Erwachsenenwelt lossagen und als unkontrollierbares Element dem Staat gegenübertreten, die das Gravitationszentrum dieses Romans bilden und zugleich seine Form bestimmen. Sila skizziert Protagonisten und Ereignisse drastisch und überzeichnet. Wie ein Popkünstler tastet er die Oberflächen dieser Welt nach Zeichen ab, die auf verborgene Konflikte, gefrorene Energien und unterirdische Ströme verweisen.

Sila schreibt mit der No-Bullshit-Attitude guter Punksongs. Mit feinsinnigem, krudem Humor

Das verwundert nicht, präsentiert sich Tijan Sila selbst der Welt doch als stets aus dem Ei gepellter Styler, der im Herzen der Punk geblieben ist, der in den Neunzigern mit seiner Band durch die autonomen Jugendzentren in Ost und West tourte. Als Berufsschullehrer in Kaiserslautern hat er täglich mit Jugendlichen zu tun. Des Abends schreibt er mit der coolen No-Bullshit-Attitude guter Punksongs, also mit mal feinsinnigem, mal krudem Humor Geschichten, die sich schwer ausdenken ließen, gehörte Sila zu den in Wohlstand gebadeten Kindern der Upper Middle Class.

Seine Erzählweise hat etwas comichaftes, was aber nicht bedeutet, dass seine Erzählungen nicht realistisch wären. Auch das Leben von Akademikern ist banaler, als sie selbst gern glauben mögen. Nicht die Psychologie des Wachbewusstseins, sondern das Verdrängte und peinlich Berührende erzählt uns von jenen Dingen, die von Belang sind.

Das zeigte sich schon an Silas drastisch-lustigem Debütroman „Tierchen unlimited“. Dessen Held erinnert sich an seine Kindheit im von Snipern und Granaten bedrohten Sarajevo. Jedes Mädchen, mit dem er in Deutschland etwas anfängt, hat einen Bruder, der Neonazi ist.

In „Tierchen unlimited“ hat sich Sila bereits mit jungen Männern und ihren Freundschaften, mit den Übergangskrisen der Adoleszenz und mit Deutschlands kaputtem Gefühlshaushalt beschäftigt. Aber auch mit Männlichkeitsidealen, die er aus Jugoslawien mitgebracht hat: „Die Erziehung von Grundschülern sollte das Ethos der Partei spiegeln, und das erschloss sich mir damals nur in Gegensätzen: oben ein kaltes, lauerndes apollinisches Gesicht, das Keuschheit, Nüchternheit und Leidensfähigkeit forderte, und darunter ein triebhafter, dämonischer Torso, der Härte, Kampf, Rivalität und Opfer gut fand.“

In seinem neuen Roman kehrt Sila zu dieser Beobachtung zurück. Der Spiroismus und seine jugendlichen Feinde, die Mobilen, sind sich in einer Hinsicht bis zum Verwechseln ähnlich: Sie hassen Schwule und sie entäußern sich am liebsten im Modus der Gewalt. Die Flipperspieler wiederum wollen nur in Ruhe spielen, müssen aber auf die harte Tour lernen, dass es unschuldiges Spiel, das immer Weltflucht ist, im totalen Staat nicht gibt.

Ein Volk von Brüdern

„Die Fahne der Wünsche“ ist von Klaus Theweleits Studie über den faschistischen Mann, „Männerphantasien“, inspiriert, in der sich auch die Formel „Die Fahne der Wünsche, ein rotes Tuch“ findet. Sila zitiert sie am Ende. Vorangestellt ist dem Roman eine Rede des Marschall-Vaters Spiro an Schüler der Grundschule Südstadt II: „Ein Volk von Brüdern braucht keinen Vater, keine Mutter, kein schlechtes Gewissen. Was wir brauchen, haben wir bereits: euch. Eure Jugend, euren Willen, eure Energie.“

Tijan Sila hat seinen Theweleit verstanden, und einen so unterhaltsamen wie klugen Roman geschrieben. So funktioniert Faschismus, ob in seiner klassischen, massenmörderischen Variante oder als Farce im Gewand des „Populismus“: Zersetzung des Über-Ichs durch Ideologie und Kitsch, Pervertierung der Triebenergie.

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