Rios erstes Favela-Kino: Es geht nicht nur um Sicherheit

Die Armenviertel in Rio werden auch mit Bildung und Kultur befriedet. Stolz wird den Gästen des Filmfestivals das erste Favela-Kino vorgeführt.

Besucher des Cine Carioca in der Favela Complexo do Alemão von Rio de Janeiro. Bild: Festival do Rio / http://www.flickr.com/photos/festivaldorio/8058538144/in/set-72157631637354519

RIO DE JANEIRO taz | Wie stellen Sie sich eine Favela vor? Düster und heruntergekommen, ohne Infrastruktur, mit steilen Treppen, halbfertigen Häusern, offenen Abwasserkanälen und aus dem Nichts durch die Luft pfeifenden Kugeln? Als wir am Freitagvormittag in der Favela Complexo do Alemão im Norden von Rio de Janeiro aus dem Wagen steigen, bietet sich ein ganz anderes Bild.

Wir halten an der Praça de Conhecimento, dem Platz des Wissens. Rechter Hand steht ein auffälliges, blau gestrichenes Gebäude, das mit Wandmalereien versehen wurde. Daneben steht ein funkelnagelneues Schulungszentrum, in dem Jugendliche Computerkurse belegen.

In der Mitte des Platzes eine Art Veranda, die grünen Ranken fehlen noch, darunter Bänke und Tische mit Schachbrettern, links ein weiterer Neubau. Es ist das Cine Carioca, das erste Kino, das je in einer Favela eröffnet wurde. Zehn weitere Kinos, so will es der ehrgeizige Plan, werden bis 2016 ihre Pforten in den Favelas und in den armen Wohngegenden von Rio de Janeiro öffnen.

Wir, das ist eine kleine Gruppe von Journalisten, Filmschaffenden und Kulturfunktionären, allesamt Gäste des Internationalen Filmfestivals von Rio, das am heutigen Donnerstag zu Ende geht. Der französische Regisseur Leos Carax, dessen jüngster, furioser Film „Holy Motors“ vor ein paar Tagen Brasilien-Premiere feierte, ist mit von der Partie, außerdem ein Filmrestaurator des British Film Institute, der die Vorführung des Stummfilms „Pleasure Garden“ von Alfred Hitchcock begleitet hat, ein Kollege vom Guardian und die Korrespondentin von Associated Press.

Herausforderung: „Kulturprodukte zugänglich machen“

In Empfang nimmt uns Sérgio Sá Leitão, ein Mann um die 40 und Direktor von Riofilme, der umtriebigen Filmförderanstalt des Bundesstaates Rio de Janeiro. Für ihn ist das am 24. Dezember 2010 eröffnete Cine Carioca ein Vorzeigeprojekt. Es besitzt 3-D-Technologie. 2011 wurden 74.000, im laufenden Jahr 65.000 Eintrittskarten verkauft. Umfragen zufolge hätten 91 Prozent der Besucher angegeben, zum ersten Mal in ihrem Leben ein Kino betreten zu haben.

Wirtschaftlich trägt sich das Cine Carioca von allein, Zuschüsse sind nicht nötig. Riofilme organisiert Schulvorführungen für 15.000 Kinder im Jahr. Das Ziel sei, diejenigen an das Kino heranzuführen, zu deren Gewohnheiten es nicht zählt, sich gemeinsam mit anderen in dunklen Räumen Filme anzusehen, sagt Sá Leitão. Die brasilianische Gesellschaft sei von „sozialer Ausgrenzung“ geprägt, und das zeige sich eben auch in der Art und Weise, wie mit Kultur umgegangen wird. „Die allererste Herausforderung für uns“, sagt Sá Leitão, „ist es, Kulturprodukte zugänglich zu machen.“

Als wir das Kino betreten, läuft gerade eine Schulvorführung. Die neun Reihen sind voll besetzt mit Kindern, die gebannt auf die Leinwand starren, manche harren auf den Treppen am Rand aus, die meisten haben Popcorn und Softdrinks in der Hand, die Lehrerinnen zischen den tuschelnden Kindern zu, sie mögen leise sein. Es läuft ein Handpuppenfilm: „31 minutos: O filme“, eine Art brasilianische Schwester der „Sesamstraße“.

Die Handlung kreist um ein TV-Studio, dem Nachrichtensprecher, einem geringelten, strumpfförmigen Wesen mit Knopfaugen, wird übel mitgespielt, und der Produzent der Sendung, eine weiße flauschige, ebenfalls strumpfförmige Puppe, muss eines Missverständnisses wegen seinen Posten räumen. Am Nachmittag steht „Hotel Transsilvânia“ auf dem Programm, gefolgt vom Disney-Animationsfilm „Tinkerbell. O segredo das fadas“. Am Abend gibt es „Resident Evil: Retribução“, was die deutsche Produktionsfirma Constantin sicherlich freut.

„Es ist ja ein Prozess"

Das Cine Carioca und die Kinos, die noch enstehen sollen, sind Teil des ambitionierten Programa de Aceleração do Crescimento (Programm zur Beschleunigung von Wachstum), das die Befriedung der Favelas zum Ziel hat. Diese Befriedung ist in Rio, mit Blick auf die Fußballweltmeisterschaft in zwei und die Olympischen Spiele in vier Jahren, in vollem Gange.

Laut Sá Leitão lebten mittlerweile 50 Prozent der Favela-Bewohner in Ansiedlungen, in denen die Drogenkartelle die Kontrolle an Spezialeinheiten der Polizei verloren haben. Früher, sagt Sá Leitão, hätten Ober- und Mittelschicht mit Gleichgültigkeit auf die Armen geblickt. Solange die Gewalt in den Favelas blieb, hätten sich die Bewohner von Ipanema, Copacabana oder Botafogo nicht weiter am Status quo gestört. Doch der Anschaffungskriminalität wegen wurde es auch in den besseren Vierteln ungemütlich.

„Es geht nicht nur darum, für Sicherheit zu sorgen“, sagt Sá Leitão, sondern eben auch für Schulen und kulturelle Einrichtungen. Und für die Müllabfuhr.

Als ich frage, ob sich Phänomene wie Korruption und Machtmissbrauch in den Reihen der Polizei mit der Favela-Befriedung erledigt hätten, lautet die Antwort: „Es ist ja ein Prozess.“ Natürlich werde nicht alles von heute auf morgen besser. Aber immerhin gibt es inzwischen eine Polizeischule, die dem Nachwuchs vermittelt, was Menschenrechte sind.

Früher No-go-Area, heute Sightseeing-Progaramm

Rio de Janeiro ist im Begriff sich zu ändern. Das Zentrum des Filmfestivals ist in einem ehemaligen Lagerhaus untergebracht, das zum Hafengelände gehört, eine übel beleumundete Gegend. Die Trasse einer Schnellstraße, die über die Köpfe der Festivalbesucher hinwegführt, macht sie nicht einladender. Überall ragen Bauzäune auf, hinter denen die „Cidade Olimpica“ entstehen wird.

„Wiederbelebung des Hafens. Eine neue Stadt wird geboren“ steht auf Schildern. An dem Abend, an dem Hitchcocks „Pleasure Garden“, begleitet von einem Orchester, bei einer Open-Air-Vorführung am Strand von Copacabana präsentiert wird, ist der Besucherandrang groß. Die Menschen wirken entspannt, vergnügt und voller Vorfreude, als sie sich im Sand niederlassen.

Vor sieben Jahren, sagt eine regelmäßige Besucherin des Festivals, habe es schon Kino am Strand gegeben, aber das Gefühl von Unsicherheit sei groß gewesen. Und waren die Favelas früher No-go-Areas für Touristen, gibt es für Wagemutige dort inzwischen sogar Hotels. Geführte Touren durch die illegalen Ansiedlungen gehören fast so sehr zum Programm eines Rio-Besuchers wie die Gondelfahrt zum Zuckerhut.

An der Straße nach Rocinha, einer Favela im Süden der Stadt, verkaufen Händler Kunsthandwerk, darunter Aquarelle, auf denen die übereinandergestaffelten Häuser pittoresk aussehen. Die Preise für die Immobilien steigen an, 30.000 Dollar kostet im Augenblick eine Zweizimmerwohnung in Rocinha. Wer jetzt ein Haus hat, gibt es nicht mehr her.

Ambivaltente Programmierung

Zurück zum Cine Carioca. Filmgeschichte, Weltkino oder Arthouse-Filme fehlen in der Gestaltung des Programms, was angesichts der überaus reichen brasilianischen Filmkultur bedauerlich ist. Warum wird den Heranwachsenden kein Film von Glauber Rocha gezeigt, dem großen Erneuerer des brasilianischen Kinos? Warum wird nicht ab und zu einer der jüngeren, unkommerziellen und überaus sehenswerten Filme präsentiert, die zur Zeit abseits der Metropolen, in den Bundesstaaten Minas Gerais, Pernambuco und Ceará, entstehen – etwa „Girimunho“ (2011) von Clarissa Campolina und Helvécio Marins?

Wenn man in der Programmierung auf Eingängigkeit und Massengeschmack setzt, so ist das zumindest ambivalent. Denn es ist schwer zu sagen, ob man auf diese Weise einfach nur pragmatisch agiert und denen, denen das Kino bisher nichts bedeutet, mit einem nicht allzu anspruchsvollen Angebot den Einstieg ermöglicht. Oder ob man aus einer allzu vorauseilenden Anpassung an einen nur angenommenen, aber nie verifizierten Zuschauergeschmack heraus die Filme programmiert, die nichts von ihrem Publikum verlangen.

Letzteres wäre im besseren Fall eine Projektion, im schlimmeren Fall Arroganz: Filmkunst wäre dann eben doch nur etwas für Bourgeoisie und Boheme, nichts für die Favela.

Es fällt auf, wie oft Sá Leitão von „Kulturkonsum“ und „Produkten“ spricht. Erst auf Nachfrage sagt er, es gehe natürlich auch darum, die „kritische Reflexion“ anzuregen. Man wäre übertrieben skeptisch, wollte man dem Cine Carioca zum Vorwurf machen, es diene vor allem dazu, der Filmindustrie neue Kundenkreise zu erschließen.

Trotzdem mischt sich in den Enthusiasmus eine bittere Note, weil man sich des Eindrucks, dass das ehrgeizige Projekt hinter seinen Möglichkeiten bleibt, nicht ganz erwehren kann. Am Ende unseres Besuchs frage ich Leos Carax, ob er sich vorstellen könne, dass „Holy Motors“ im Cine Carioca läuft. Eher nicht, sagt er, denn es würden ja nur synchronisierte Filme ins Programm genommen. „Aber ich würde den Kindern gern einen Film von Chaplin zeigen.“

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