Revolutionärer 1. Mai in Kreuzberg: Entspannung aus der Luft

Kurz vor Beginn der Demo war die Lage kritisch. Die Polizei wollte den Demonstranten den Zugang zum MyFest versperren.

Bunter Rauch im schwarzen Block

Demonstrierende tragen ihre politischen Inhalte auf die Straße Foto: Reuters

Die Revolutionäre 1.-Mai-Demo zieht unangemeldet durchs MyFest. Kein Problem?

Als die 18-Uhr-Demo geradezu überpünktlich um 18.45 Uhr startete – so früh wie seit vielen Jahren nicht mehr –, schien es tatsächlich so. Tausende zogen vom Oranienplatz aus die Oranienstraße herunter. Die MyFest-Besucher standen auf den Bürgersteigen Spalier, keine Spur von Gedränge oder Massenpanik. Dabei war Letzteres die größte Angst der Polizei im Vorfeld, noch vor Terrorattacken und gewöhnlichen Ausschreitungen.

Doch es hätte anders kommen können. Gegen 18.35 Uhr verschickte die Berliner Polizei einen Tweet mit dem Hinweis, dass die Oranienstraße „wegen Überfüllung“ gesperrt wird. Eine Nachricht, die einem Verbot der Demo auf der Strecke gleichkam. Polizeisprecher Winfrid Wenzel bestätigte der taz: „Bei einer vollen Auslastung der Straße hätte es keine Chance für den Aufzug gegeben, da durchzugehen. Wir waren vorbereitet, die Sperrung hinzubekommen.“

Erst ein Hubschrauberflug brachte die Erkenntnis, dass der Platz doch ausreiche. Der Tweet wurde nach fünf Minuten wieder gelöscht, das unübersichtliche Szenario einer Verhinderung der Demo blieb Theorie. Vor dem Frontblock der Demonstration sorgten Ordner des MyFestes für Platz. Von der Polizei war nichts zu sehen.

Welche Auswirkungen hatte die Nichtanmeldung der Demo?

Ein deutlicher Rückgang der Teilnehmerzahlen, wie etwa von Innensenator Andreas Geisel (SPD) im Vorfeld prognostiziert, ist nicht eingetreten. Der harte Kern der Szene ließ sich von der Strategie der Organisatoren um die Radikale Linke Berlin eh nicht abschrecken, aber auch die Ein-mal-im-Jahr-Demonstranten und Touristen waren zahlreich vor Ort. Der Ruch der Gefahr zieht mindestens so stark, wie er abschreckt. Die Veranstalter sprechen von bis zu 20.000 Teilnehmern, die Polizei von 10.000 Teilnehmern. Damit wurde das Niveau des Vorjahres erreicht.

Ohne Lautsprecherwagen fehlten die pathetisch-revolutionären Reden. Was die Vermittlung von Inhalten anging, etwa die Verdrängung durch Mieterhöhungen oder der bevorstehende G-20-Gipfel im Juli in Hamburg –, waren die Teilnehmer daher auf sich gestellt. Doch davon drang wenig nach außen. Die Parolen waren altbekannt, die Zahl der Transparente vergleichsweise gering.

Ist die Taktik von Innensenator Geisel und der Polizei aufgegangen?

Auf die Nichtanmeldung wurde im Vorfeld souverän reagiert. Alles kein Problem, wir machen es wie immer, so die offiziellen Verlautbarungen. Die Deeskalation in dieser Frage trug wesentlich zur entspannten Stimmung auf der Demo bei. Als das MyFest ohne jegliche Polizeibegleitung durchschritten war, änderte sich jedoch die Situation. Ab dem Görlitzer Bahnhof bildeten Hundertschaften ein enges Spalier um den vorderen Teil der Demo. Von da an kam es immer wieder zu einzelnen Rangeleien und in der Pannierstraße auch zu Festnahmen und Prügeleinsätzen. Am Endpunkt Spreewaldplatz griffen Polizei­kleingruppen immer wieder Demonstrationsteilnehmer aus der Menge heraus; aus dieser kam es wiederum zu vereinzelten Flaschen- und Böllerwürfen.

Innensenator Geisel und Polizeipräsident Klaus Kandt zeigten sich am Dienstag zufrieden mit dem Verlauf. Geisel betonte, der 1. Mai sei auf dem Weg, „ein ganz normaler Feiertag“ zu werden. Zwar habe die Polizei rund 1.000 gewaltbereite Demonstranten ausgemacht – 300 der Kategorie „rot“ (gewaltbereit), 800 mit der Einstufung „gelb“ (Unterstützer) – vor allem in der Spitze der Demonstration. Die Mehrheit der Teilnehmer sei aber friedlich gewesen. Die Demonstration durch das MyFest ziehen zu lassen sei eine Entscheidung „im Sinne der friedlich Feiernden gewesen“. Nichtsdestotrotz würden nun Ermittlungen wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz eingeleitet.

Wie ist die Bilanz in Zahlen?

Im Rahmen der Demonstration sind laut Polizeiangaben 72 Personen festgenommen worden, viele davon gegen Ende auf dem Spreewaldplatz. Koordinierte Angriffe auf die Polizei habe es dort aber nicht gegeben, sagt Kandt, eher Einzelaktionen von zum Teil betrunkenen Tätern. Als verletzt gemeldet haben sich 32 der insgesamt 5.600 eingesetzten Beamten, im Vorjahr lag die Zahl noch bei 59 leicht Verletzten. Festgenommen wurden damals 42 Personen.

Und die Stilkritik von außen?

Eine Gruppe unabhängiger Demobeobachter hat in einer Stellungnahme das Verhalten der Polizei scharf kritisiert: „Sowohl die Versammlungsfreiheit als auch die Unversehrtheit von Teilnehmern und Passanten wurde durch die Polizei in erschreckender Weise gefährdet“, so Christina Tieck. Erwähnt wurde unter anderem eine Festnahme am Spreewaldplatz, bei der eine Person mit „Schmerzgriffen in Scherben gedrückt“ wurde.

Der Grüne-Innenexperte Benedikt Lux sprach dagegen von einer „Taktik, die sehr gut aufgegangen ist“. Die Festnahmen haben sich „gezielt gegen vermeintliche Gewalttäter“ gerichtet. Das enge Spalier sei dagegen „das Haar in der Suppe“ eines ansonsten „souveränen Einsatzes“.

Was macht der SPD-Innen­politiker Tom Schreiber auf der Demo?

Schreiber, seit Jahren für seine harte Gangart gegenüber der linken Szene bekannt, begleitete die Demo zusammen mit anderen Innenpolitikern, darunter Hakan Taş von der Linkspartei. In der Ohlauer Straße wurde er von Demonstranten erkannt und angegangen. Einer packte ihn am Kragen, ein anderer wollte ihn schlagen.

Doch Taş und einige Umstehende griffen ein, Schreiber blieb unverletzt und verbrachte den Rest des Abends im Schutzbereich der Polizei. Von einem „völlig inakzeptablen Vorgang“ spricht Lux: „Beschimpfungen muss man aushalten, tätliche Angriffe gehen viel zu weit.

Was macht der Riot Dog?

Louk, der Straßenhund aus Athen, der jahrelang keine Krawalldemo ausließ, ist in Berlin nicht zum Leben erwacht. Der herrenlose Hund, den die Polizei in Kreuzberg in Gewahrsam nahm, konnte an seinen Besitzer zurückgegeben werden.

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