Reisebericht Süd-Marokko 2008: Marokko – ganz zivil

Zu Besuch beim Netzwerk Synergie Civique. Der Reisejournalist Günther Ermlich begleitete die erste taz-Reise nach Südmarokko im April 2008.

Die Reisegruppe im Kräutergarten "Nectarome" im Ourika-Tal Bild: Veronika Zimmer-Zügel

„Ich kann einfach nicht still sitzen und warten“, sagt Jamila Hassoune. An diesem sonnigen Nachmittag besuchen wir ihren kleinen Buchladen im Universitätsviertel von Marrakesch. Und Jamila, die 42-jährige Rastlose mit den kurzen schwarzen Haaren, erzählt uns die fabelhafte Geschichte der „caravane civique“, der Bürgerkarawane, die sie auf den Weg gebracht hat. Damals, Mitte der Neunzigerjahre, als sie ihren Buchladen gegründet und Autoren in ihren Buch- und Leseklub eingeladen hatte, träumte sie von einem fliegenden Teppich, mit dem sie Bücher in die ländlichen Gegenden bringen wollte.

Dann machte sie es doch ganz irdisch, packte ihr Auto mit Büchern voll und fuhr in die entlegenen Bergdörfer des Hohen Atlas, um den Menschen Geschichten vorzulesen. Peu à peu entstand aus Jamilas Einzeltat die caravane civique, eine Karawane von Wissenschaftlern, Journalisten und Künstlern, die aufs Land zieht und Diskussionen, Vorträge und Lesungen organisiert.

Als der Kellner vom Café nebenan Minztee bringt, erzählt Jamila gerade von den zwei Gruppen, die ihr besonders am Herzen liegen. Die Frauen „wegen der hohen Analphabetenrate“ und die Jugendlichen, „die Zukunft Marokkos“. 50 bis 60 Prozent der marokkanischen Frauen könnten nicht schreiben und lesen, in manchen Dörfern seien es sogar 90 Prozent.

Und 400.000 Schüler verließen jedes Jahr die Schule, wegen der Armut, wegen der großen Entfernung von zu Hause, wegen familiärer Probleme. Die Bildung sei das größte Hemmnis, sie blockiere den Fortschritt des Landes, dazu kämen die Arbeitsmigration und das imaginierte Paradies Europa. „Alle jungen Marokkaner wollen dorthin.“ Für ihre zahlreichen Aktivitäten bekommt Jamila keine finanzielle Unterstützung. Möchte sie auch gar nicht. „Ich wollte immer frei und unabhängig sein.“

Jamila Hassoune in ihrem Buchladen in Marrakesch Bild: Veronika Zügel-Zimmer

Mitte der Neunzigerjahre leitete die gesellschaftliche Öffnung die Modernisierung und Demokratisierung Marokkos ein. Sie ermöglichte die Freilassung politischer Gefangener und die Aufarbeitung der staatlicher Repressionen während der „bleiernen Zeit“. Zeitlich parallel formierte sich die Zivilgesellschaft, landesweit gründeten sich tausende Gruppen, Initiativen und Projekte, eine gesellschaftsumspannende action citoyenne für die Verbesserung der Lebensbedingungen, für Menschenrechte und Frauenemanzipation. Im Jahr 2000 zählte man bereits 17.000 Nichtregierungsorganisationen (NGOs). 

Frauengruppen und Menschenrechtler

Mit Jamila haben wir gleich eine exponierte Protagonistin dieser aufblühenden marokkanischen Zivilgesellschaft kennengelernt. In der „alten Zeit“ durfte sie „bestimmte Bücher“ nicht verkaufen und „bestimmte Autoren“ nicht einladen, sagt Jamila. Das hat sich geändert. Viele der früheren politischen Gefangenen haben inzwischen Bücher veröffentlicht. Man könne den Wechsel, den neuen gesellschaftlichen Freiraum, fühlen.

Wir sind die erste Gruppe der „Reisen in die Zivilgesellschaft“, die Vorhut des neuen anspruchsvollen touristischen Programms der taz: „Urlaub plus Begegnungen mit Menschen, die in ihrer Gesellschaft etwas bewegen und in zivilgesellschaftlichen Initiativen und Projekten mitarbeiten.“ Für Marokko heißt das: Kein Badeurlaub in Agadir oder Kameltrekking in der Wüste, kein Wandern im Hohen Atlas oder Hopping durch die Königsstädte. Stattdessen werden wir in den nächsten zehn Tagen durch den Süden Marokkos fahren, mit Frauengruppen und Menschenrechtlern, Umweltschützern und Teppichweberinnen ins Gespräch kommen, Einblicke in den gesellschaftlichen Alltag durch das Brennglas von Initiativen und Projekten gewinnen.

Marrakesch: Entspannung nach dem Altstadtbummel auf der Dachterasse des Kultur-Cafés Dar Sherifa Bild: Veronika Zimmer-Zügel

Immer mit an Bord, wenn auch nur gedanklich, wird Fatima Mernissi sein. Denn die bekannte marokkanischen Autorin und Frauenrechtlerin ist das Epizentrum von „Synergie Civique“, eines Netzwerks, das die Verbindung zwischen engagierten Personen und Gruppen der Zentren Casablanca, Rabat und Marrakesch mit Gruppen und Initiativen der ländlichen Regionen Südmarokkos spinnt. Als „Moderne Sindbads“ bezeichnet Mernissi die zivilgesellschaftlichen Akteure. Wie die Seefahrer und Händler in der Blütezeit der arabisch-islamischen Zivilisation würden sie heute die Möglichkeiten der globalisierten und digitalisierten Welt für eine Stärkung der Zivilgesellschaft nutzen.

Unser nächster Termin: Ein Frauenzentrum im Viertel Sidi Youssef Ben Ali fernab vom touristischen Marrakesch. „Wir haben das Zentrum 2004 eröffnet, um die Lage der jungen Frauen hier im Viertel zu verbessern“, erklärte eingangs Halima Oulami, die Leiterin der Frauengruppe „Al Amane pour le développement des femmes“. Dazu gehöre eine ganze Palette von Aufgaben: Alphabetisierungskurse, Hilfe bei Behördengängen und juristische Begleitung bei Gericht, Gesundheitsberatung durch Mediziner, Ausbildungsworkshops in Weben und Raumgestaltung, Hilfe bei der Suche nach Kleinkrediten für Existenzgründerinnen, zum Beispiel für den Kauf und Wiederverkauf von Kleidern, für Gewürzhandel und Schafzucht. 

Keine Gehorsamspflicht mehr

Eingang zum Frauenhaus El-Amane im Stadtviertel Sidi Youssef Ben Ali in Marrakesch Bild: Gudrun Keller

„Und wie reagieren die Männer?“, will eine Frau aus unserer Gruppe wissen. „Wir sind schon eine Provokation für sie“, antwortet Halima. Dann zeigt sie auf das bunte Plakat an der Wand, das mit einer Folge von Zeichnungen und kurzen Texten das neue Familienrecht, die Moudawana, vorstellt. „Für uns Frauen hat sich mit der Moudawana im Jahr 2004 einiges verändert.“ Die Gehorsamkeitspflicht der Frau wurde abgeschafft, es wurden Familiengerichte eingeführt, der Mann müsse nun die Verstoßung seiner Frau vor Gericht beantragen, während diese dagegen Einspruch erheben könne, im Fall einer Scheidung wurde die Gütertrennung eingeführt.

Die Reform des Familienrechts, von König Mohammed VI. angestoßen, verbessert die (rechtliche) Lage der Frauen erheblich und gibt der Modernisierung des Landes einen Schub. „Noch hapert es aber an der Umsetzung der Moudawana“, dämpft Halima die vorschnelle Euphorie. Denn das Gesetz lasse Spielraum für die Auslegung, die Familiengerichte seien nicht gut ausgestattet und die Richter schlecht geschult, viele seien schlicht überfordert oder nicht mutig genug.

Nach gut zwei Stunden ist der Akku unserer Aufmerksamkeit leer. Doch nach dem Abendessen im Riad, unserem kleinen Altstadt-Hotel mit Orangenbäumen und Springbrunnen im Innenhof, folgt die Fortsetzung mit Jamila und Halima im kleinen Kreis. Vor allem Ursula und Cäsar aus München sind ganz Ohr – kein Wunder, beide sind Rechtsanwälte mit Schwerpunkt Familienrecht.

Im Palmenhain bei Tissergate im Draa-Tal Bild: Claudia Salden

Noch mit von der taz-Partie sind unter anderen Wolfgang aus Taunusstein, Agrarbiologe und grüner Bundestagsabgeordneter der ersten Stunde; Veronika, Stadtplanerin aus Berlin, die das erste Mal in die arabische Welt fährt; Margrit aus Hannover, pensionierte Schulleiterin, die seit langem mit einer multikulturellen Frauengruppe arbeitet; Ludmilla und Detlef aus Leipzig, sie Journalistin, er Zahnarzt, beide im Ruhestand.

Eine reizende Gruppe, aufgeschlossen und wissbegierig, die einen transtouristischen Zugang zu Marokko erhalten möchte. Für diesen besonderen Mehrwert ist Thomas Hartmann zuständig, unser Reiseleiter und Übersetzer. Obendrein ist Thomas Spiritus Rector der neuen taz-Reisen. Schon seit zwanzig Jahren beschäftigt sich der geborene Netzwerker mit Marokko, er hat viele Kontakte im Land geknüpft und kennt sich in der zivilgesellschaftlichen Szene bestens aus.

Wie aus dem Märchen

Die "Affenpfoten"- Felsen im Dadès-Tal bei Tamellalt Bild: Gudrun Keller

Es ist eine ganze Tagesreise im Bus, von Marrakesch über den Hohen Atlas mit seinen schneebedeckten Bergen, durch die Steinwüste und die Dadès-Schlucht bis ins Dorf Tamellalt, wo Fatima Mellal wohnt. Ihre Geschichte liest sich wie ein Märchen aus 1001 Nacht:

Eine junge unverheiratete Berberin ohne Schulbildung fängt mit 30 Jahren zu malen an. Ihr Bruder, ein Kunstlehrer, hat ihr Pinsel, Farbe und Leinwand geschenkt und sie zum Malen ermutigt. Ein paar Jahre später kommt eine Schweizer Touristin ins Dorf, sieht ihre naive Malerei, lädt sie nach Zürich ein, um dort in einer Galerie auszustellen. Bis dahin war sie nicht weiter als in das 60 Kilometer entfernte Ouarzarzate gefahren. Aber inzwischen hat Fatima ihre Bilder in sieben Ländern ausgestellt, darunter in Frankreich, Spanien und in den USA.

Einige aus unserer Gruppe schlafen in den Gästezimmern ihres Hauses, einer mächtigen Lehmkasbah, in dem auch ihre Eltern und ein Teil der Geschwister leben. Abends tischt Familie Mellal im Speisesaal eine schmackhafte Tajine auf, am nächsten Morgen zeigt uns Fatima ihr kleines Atelier voller Aquarellzeichnungen. Immer wieder bildet sie ihre direkte Umwelt ab, malt die skurrilen Berge und die Schluchten des Dadès-Tals, Lebensbäume und Teppichmotive, Männer und Frauen bei der Feldarbeit. Flächig, kräftig bunt, ausdrucksstark. Später führt sie uns auf die Terrasse ihres Hauses, lehnt sich über das hellblaue Geländer. Das sei ihr Lieblingsplatz, sagt sie. Von dort schaut sie auf die zum Greifen nahen, 120.000 Millionen Jahre alten erdfarbenen Felsformationen, die man wegen ihrer Form „Affenpfoten“ nennt.

Fatima strahlt eine große Ruhe aus. Kraft und Inspiration gewinnt die inzwischen 40-jährige Frau aus ihrer dörflichen Umgebung, aus der Unterstützung ihrer Familie – und aus dem Netzwerk Synergie Civique, mit dem sie verwoben ist. Trotz ihrer Ausfüge in die westliche Kunstwelt bleibt sie in ihrem Heimatdorf verwurzelt und hat eine Dynamik im Dorf in Gang gesetzt. Die Analphabetin und Autodidaktin hat Bücher gesammelt und eine Leihbücherei für Jugendliche aufgebaut – jeden Sonntag leitet sie einen Malworkshop für Kinder. Längst ist sie zum Vorbild und Stolz ihres Dorfes geworden, das sie anfangs wegen ihrer Malerei abgelehnt hatte.

Tamellalt: Fatima Mellal erläutert eines ihrer Bilder in ihrem Atelier. Bild: Günther Ermlich

Kampf gegen Wüste

Am nächsten Tag fahren wir durch eine wild zerklüftete Mondlandschaft mit schwarzen Canyons und durch das von Palmenhainen, Lehmdörfern und Kasbahs gesäumte Flusstal des Drâa. Unser Ziel ist Zagora. Früher war die Stadt am Rand der Wüste eine wichtige Karawanenstation, „52 Tage nach Timbuktu“, in der Protektoratszeit dann französische Garnison, heute ist Zagora das Zentrum des marokkanischen Kameltrekking. Der Himmel über der Wüste ist grau. Abends beim Couscous auf der Hotelterrasse beginnen die Dattelpalmen plötzlich ganz bedrohlich zu schwanken, Sturmböen wirbeln den Sand auf, wir flüchten nach drinnen. Auch an den nächsten Tagen tobt der Sandsturm und verwischt alle Konturen.

Unser Programm ist dicht, die Informationsfülle gewaltig. Morgens besuchen wir in Tamegroute eine islamische Bruderschaft und ihre Bibliothek mit reicher Manuskriptsammlung, die Textil-Ausstellung einer Frauenkooperative und ein gescheitertes Keramikwerkstätten-Projekt. Nachmittags sind wir bei Adedra zu Gast, einem NGO-Netzwerk zur Entwicklung des Drâa-Tals mit seinen 300.000 Menschen. Ein wichtiges Teilprojekt ist die Bekämpfung gegen die fortschreitende Verwüstung, denn der Sand raubt immer größere Anbauflächen für Dattelpalmen und Henna.

Dadès-Tal am Südhang des Hohen Atlas, nahe Tamellalt Bild: Katrin Bär

Abends treffen wir Ahmed Zainabi, der aus Zagora stammt und früher selbst Adedra leitete. Heute ist er Mitglied des „Beirats für Menschenrechte“, eines vom König installierten Gremiums zur Überwachung der Menschenrechte. Zainabi berichtet von der in der arabischen Welt einzigartigen Wahrheitskommission, die König Mohammed VI. 2004 einrichten ließ, um die „bleierne Zeit Marokkos“ unter seinem Vater, König Hassan II., aufzuarbeiten.

Es war die Zeit der Geheim- gefängnisse und systematischen Menschenrechtsverletzungen, der Repression der Bevölkerung durch kollektive Verhaftung und Landvertreibung. Die Empfehlungen der Wahrheitskommmission – individuelle Entschädigung der Opfer, Reintegration und gesundheitliche Versorgung der ehemaligen Häftlinge, Entwicklung der aus politischen Gründen „abgehängten“ Regionen, Reform des Verfassungssystems – wurden alle vom König akzeptiert, erzählt Zainabi.

Das Thema ist so spannend, Zainabi so eloquent, der Sandsturm so nachsichtig, dass wir die marokkanische Lektion nach dem Abendessen bei Bier, Wein und Whisky auf der Terrasse fortsetzen, bis die Müdigkeit den Wissensdurst überwältigt.