Reise nach Litauen: Kalter Krieg frisch aufgewärmt

Die Baltenrepublik bietet phantastische Aussichten auf Meer, Strand und Dünen. Zum Gruseln gibt es den Besuch einer ehemaligen Atomraketenbasis.

Kurische Nehrung: Blick über die Große Düne auf die Bucht von Nida Bild: imago/Martin Bäuml Fotodesign

Der größte Feind des Soldaten ist die Langeweile. Auch die jungen Briten auf dem Passagierdeck der „Athena Seaways“ haben diesem Gegner nicht viel entgegenzusetzen. Träge lümmeln sie in den Polstern der Bordbar, über sich große Bildschirme, aus denen russische und litauische TV-Stimmen plärren.

Dass die Truppen während der Überfahrt keinen Alkohol trinken dürfen, macht die Sache nicht kurzweiliger. Zwei Soldatinnen starren lustlos in ihr Smartphone, ein Kahlkopf hat Tisch und Stühle beiseitegeräumt und übt einsam seine Liegestützen.

Die Lastwagenfahrer auf der Fähre haben es besser. Die Atmosphäre ist gesellig. Die zwanzigstündige Passage zwischen Kiel und Klaipeda geht sechsmal pro Woche, viele Trucker kennen sich seit Jahren. Und obwohl ein Schild vor Alkohol warnt, wird kurz nach dem Auslaufen bereits kräftig gebechert.

„Alkohol ist manchmal ein Problem an Bord. Nach den langen Stunden am Steuer ist die Bar bei den Fahrern beliebt“, sagt Christoph Knobloch vom Schiffsbetreiber DFDS Seaways mit Blick auf die Baltikum-Urlauber, die von den Fahrern an Bord nicht gestört werden sollen.

Anreise: Per Schiff mit DFDS Seaways ab Kiel nach Klaipeda sechsmal wöchentlich. Das Schiff legt um 20 Uhr ab und erreicht Litauen am nächsten Tag um 18 Uhr. Preis im Ruhesessel ab 18 Euro. Kabinenpreis für zwei Personen inklusive Pkw-Transfer ab 174 Euro. Mit dem Flugzeug: nach Palanga über Riga mit Air Baltic oder über Kopenhagen mit SAS.

Einreise und Währung: Für die Einreise in das EU-Land genügt der Personalausweis. Bezahlt wird in Euro. Litauen ist seit Kurzem Mitglied der Eurozone.

Unterkunft: Zehn Jahre nach EU-Beitritt verfügt die Küstenregion von einfachen Pensionen bis zu internationalen Tophotels über ein breit gefächertes Angebot. Im Sommer empfiehlt sich für die Kurische Nehrung frühzeitige Reservierung, die Übernachtungsmöglichkeiten sind begrenzt. Das größte Angebot außerhalb der Nehrung findet sich in Litauens größtem Ferienort, Palanga

Der Ukraine-Konflikt ist allgegenwärtig

Doch was an diesem Abend wirklich stört, sind nicht die Trucker, sondern die gelangweilten Soldaten. Was haben die vor? Wo fahren die hin? Während die Briten vor sich hin dämmern, zeigt der russische TV-Sender über ihren Köpfen Bilder aus Donezk von zerstörten Häusern und weinenden Frauen. Ist das Wahrheit? Staatspropaganda? Oder irgendwas dazwischen?

Der Ukraine-Konflikt, die internationale Krise und die Konturen eines neuen kalten Krieges sind mit Händen zu greifen. Für Passage-Manager Knobloch ist das nichts Neues. Die Folgen des Wirtschaftsboykotts gegen Russland spürt die Schiffslinie bereits seit Monaten. Warenaustausch und Speditionsverkehr über die Ostsee sind stark zurückgegangen.

Für das Nato- und EU-Land Litauen ist die Richtung hingegen klar: je unabhängiger von Russland, desto besser. Als das Schiff in den Hafen von Klaipeda einläuft, passiert es einen im Bau befindlichen Erdgas-Terminal. Die Energie soll künftig nicht nur aus Russland, sondern über den Seeweg auch aus anderen Ländern importiert werden können.

Heute kommen Nato-Soldaten

Gastgeber Rolandus Sipavicius, der uns am Kreuzfahrtterminal empfängt, macht deutlich, dass sein Land die Russen zwar abgeschüttelt, aber nicht vergessen hat: „Für Moskau war Klaipeda ein wichtiger Militärhafen, um im Ostseeraum schnell operieren zu können. Bei Unruhen in der DDR hätte man in kürzester Zeit Panzer in Mukran auf Rügen anlanden können.“

Dass heute in Gegenrichtung Nato-Soldaten an Russland heranrücken, empfinden viele Litauer hingegen als alternativlos. Zumindest für die mittlere und ältere Generation ist Putins Politik eine alarmierende Erinnerung an die Zeit der sowjetischen Besatzung. Dass die jungen Litauer angesichts guter Jobs im EU-Raum kein Russisch mehr lernen wollen, kann Rolandus nicht nachvollziehen: „Man muss unterscheiden zwischen der Politik und der Sprache und nicht gleich alles Russische verdammen“, meint der Übersetzer.

Die Idee einer kompletten Unabhängigkeit von Russland ist ohnehin Illusion. Litauens Abhängigkeit von russischen Gas-, Erdöl-und Stromlieferungen liegt bei fast 100 Prozent. Der Erdgas-Terminal und die Suche nach einem Partner zur Wiederinbetriebnahme des Atomkraftwerks Ignalina haben da eher symbolischen Wert. Auch die vielen gut betuchten Russen aus Kaliningrad, die in Litauen Urlaub machen, sind wegen ihrer Kauflust gern gesehene Gäste.

Nur wenige Russen

Was den Alltag angeht, halten sich die Litauer auf ihren entspannten Umgang mit den Russen viel zugute. Man gibt sich selbstbewusst. Anders als der Rest des Baltikums ist das kleine Land kaum russifiziert worden. Während in Estland mehr als 30 Prozent Russen leben, sind es in Litauen gerade 7 Prozent.

Fernab von Stadt und Küste, auf Litauens plattem Land, hat auch der Westen längst Pflöcke eingeschlagen. Die Sanierung des frisch renovierten Heimatmuseums in Plateliai, einem ausgestorben wirkenden Dorf im Nationalpark Zemaitija, ist komplett aus EU-Mitteln finanziert.

Das von Aldana Kuprelyté geleitete Haus bietet einen guten Einblick in Litauens ländliche Geschichte. Wandgroße Reproduktionen historischer Fotos zeigen bäuerliche Arbeiter aus dem 19. Jahrhundert bis in die Zeit der sowjetischen Kolchosen.

„Diese Menschen“, sagt die Historikerin und zeigt auf das älteste Bild ihrer Sammlung, „hatten es nicht leicht, aber sie besaßen trotzdem Würde und eine eigene Kultur.“ Dann zeigt sie auf das Bild einer sozialistischen Erntebrigade: „Aber die dort, die waren nur Pack. Elende Lumpen und Pack.“

Das Trauma der Fremdherrschaft und die Hinterlassenschaften sowjetischer Willkür sind in der seereichen Gegend noch an anderer Stelle zu besichtigen. Unweit von Plateliai, verborgen im Wald, liegt die ehemalige Atomraketenbasis Plokstine, wo von 1962 bis 1979 acht Atomsprengköpfe auf Ziele in Westeuropa gerichtet waren.

Gruselkabinett im Wald

„Wir wussten, dass die Russen irgendwas im Wald treiben, aber wir wussten nicht, was es war. Es war unmöglich, in die Nähe zu kommen“, erinnert sich Fremdenführerin Ausra Brazdeikyté beim Gang durch die weit verzweigten unterirdischen Bunkeranlagen, die – ebenfalls mit EU-Hilfe – ein sehr spezielles Erlebnis aus Gruselkabinett und Geschichtsstunde bereithalten.

Für sensible Naturen ist das nichts. Enge Gänge führen durch schwere Eisentüren, vorbei an Rohrleitungen und Wachsfiguren, die Funker und Atomingenieure darstellen oder Gasmaske und Schutzanzug tragen. Madame Tussauds meets Dr. Seltsam. Der Geruch von Raketentreibstoff und rostigem Eisen scheint noch immer in der Luft zu hängen. Und schließlich steht man am oberen Rand eines leeren Raketensilos und blickt in einen 25 Meter tiefen Trichter.

Drei Stunden später auf einer Segelyacht im Kurischen Haff könnte der Gegensatz zur Klaustrophobie des Atomzeitalters kaum größer sein. Es ist ein ungewöhnlich schöner Tag, der Himmel blau, der Horizont weit. Die riesigen Dünenlandschaften der Kurischen Nehrung strahlen hell in der Sonne. Vom Anleger in Nida ist es über den schmalen Landstreifen der Nehrung nicht weit bis zur Ostsee, wo sich ein neunzig Kilometer langer, nahezu leerer Sandstrand offenbart.

Thomas Manns Ferienort Nida

Die Schönheit der Küste und die Lieblichkeit von Orten wie Juodkranté oder dem einstigen Thomas-Mann-Ferienort Nida mit alten Kirchen und bunten Holzhäusern könnten suggerieren, es habe hier einst eine bessere, unschuldigere Welt gegeben. Etwa, als dort noch Deutsche lebten, die die Gegend Memelland nannten und einen heute fast vergessenen ostpreußischen Dialekt sprachen.

Dass es derart idyllisch nicht gewesen sein kann, lässt schon eine Fotografie von Thomas Mann und seiner Familie aus dem Jahr 1931 erahnen. Der eitle Dichterfürst steht am Strand von Nida in offenbar launiger Stimmung fröhlich winkend auf einem Stein, um ihn herum Ehefrau Katja und die Kinder, die pflichtschuldigst und mit gezwungenem Lachen zu dem Familientyrannen aufblicken.

Thomas Mann ist nur dreimal in Nida gewesen, bevor ihn der Ekel vor den Nazis 1933 aus dem Land trieb. Doch je länger man das Bild der Mann-Familie anschaut, desto mehr ahnt man: Die Angst und die Neurosen des Jahrhunderts sind längst voll entwickelt, lange vor Vertreibung, Deportation und Atomraketen.

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