Reintegrationsprogramm in Rumänien: Kinder des Untergrunds

Ein Zirkus versucht seit 20 Jahren, Straßenkindern eine Perspektive zu bieten. Eine Geschichte von Rückschlägen. Und Erfolgen.

Ein Junge sortiert seinen Besitz, er ist in der Kanalisation

Einige vom Zirkus leben nicht bloß auf der Straße, sondern schlafen in der Kanalisation Foto: Franco Origlia

BUKAREST taz | Nichts lässt in der grauen U-Bahn-Station mitten in Bukarest erwarten, dass hier gleich Akrobaten und Jongleure auftreten werden. Doch genau hier bereiten sie sich vor, auf eine Show von Parada Romania. Das ist eine NGO mit dem Ziel, die Straßenkinder Rumäniens wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

Ein wenig abseits der Gruppe der Artisten streunen der Junge Antonio und der Mann Liviu herum. Antonio, so um die zwölf Jahre alt, ist erst seit kurzem beim Zirkus. Für die Aufführungen muss er noch sicherer mit den Bällen werden. Liviu ist schon erwachsen. Beide leben auf der Straße und schlafen in der Kanalisation, neben den Heizungsrohren. Oberhalb von Bukarest deuten nur die dicken, weißen Dämpfe, die aus manchen Gullis steigen, auf die unterirdische Stadt hin – das Zuhause von über 1.500 Straßenkindern. Mit den Auftritten von Parada Romana werden sie sichtbar. Der Zirkus will die ­Kinder vor dem Vergessen bewahren.

Noch bereiten sich die Akteure auf ihren Auftritt vor. Flori, die Trainerin der Kids, spricht noch einmal die Choreografie mit ihren Schützlingen durch. Dann, mit dem Ertönen der Musik, wird es ernst. Zwei Mädchen, Zwillinge, kommen auf die improvisierte Bühne. In ihren glitzernden rosa Kostümen wirken die Kinder ganz wie professionelle Artisten. Mit Parada sind sich schon nach Italien oder Frankreich gereist. Die internationalen Shows sollen auf die Tatenlosigkeit der rumänischen Politik hinweisen.

Seit fast 20 Jahren arbeitet Parada Romania schon mit Straßenkindern zusammen. Ursprünglich begann alles mit dem französischen Clown Miloud Oukili. Nach der großen Revolution erfuhr er durch die Nachrichten, wie die rumänischen Waisenhäuser eine Flut von verstoßenen Kindern auf die Straße entließen. Eine Generation im Elend, die der verhasste Diktator Ceaușescu durch das Verbot von Verhütung und Abtreibung geschaffen hatte.

Der Applaus lässt die Angst vergessen

Miloud Oukili, der von dem innigen Wunsch getrieben war, den Kindern zu helfen, setzte sich spontan mit einer roten Nase und ein paar Bällen in das nächste Flugzeug. In Bukarest merkte er schnell, dass die Kinder mit seinen Jonglagekünsten zu begeistern waren. Durch den Zirkus eröffnete sich den Straßenkindern plötzlich eine neue Welt, in der sie nicht mehr wie Aussätzige behandelt wurden. Die Kids hatten eine neue Droge gefunden. Statt den Klebstoff „Aurolac“ zu schnüffeln und damit Hunger und Kälte kurzfristig fernzuhalten, war es nun der Applaus, der sie Angst, Gewalt und sexuellen Missbrauch vergessen ließ.

Das ist auch jetzt wieder zu sehen. Mit dem Klatschen der Zuschauer heben sich die Mundwinkel der Zwillinge. Anfangs noch ernst, wird aus dem Lächeln ein Strahlen, als sie sich verbeugen.

Über 700 Straßenkinder hat Parada Romania inzwischen wieder reintegriert. „Der Zirkus dient dazu, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen“, erklärt Franco Aloisio, der für die Organisation der Aufführungen von Parada zuständig ist: „Das ist die Grundlage, auf der wir aufbauen können. Je besser wir das Kind dann kennenlernen, desto mehr verlangen wir von ihm. Zum Beispiel die Kontaktaufnahme mit der Familie oder die regelmäßige Teilnahme am Schulunterricht. Manche Kinder haben sogar studiert, andere dagegen arbeiten nur gelegentlich.“

Marius gehört zu letzteren. Mit 14 Jahren kam er zum Zirkus und ist immer noch hier. Der Mann mit zerzausten Haaren und dem schüchternen Lächeln, das seine Zahnlücken entblößt, ist psychisch labil. Stabilität in seinem Leben findet er nur im Zirkus, deshalb kommt er immer wieder zu Parada zurück. „Wir können die Kinder nicht zwingen, die Straße zu verlassen“, sagt Aloisio. „Der Zirkus übt zwar mit seinen Farben und Kunststücken eine gewisse Anziehungskraft auf die Jugendlichen aus, aber auch die Straße hat ihren Reiz.“

„So funktioniert die Straße“

Im Zirkus gibt es Regeln: keine Drogen, keine Gewalt, gegenseitiger Respekt. Auf der Straße dagegen sind die Kinder unabhängig. Im Zirkus gibt es Autoritäten, auf die sie hören müssen – und das ist gerade das, wovor viele weggelaufen sind.

„Schwierig ist es auch deshalb, weil wir eine Tageseinrichtung sind“, erklärt Aloisio: „Somit besteht natürlich immer das Risiko, dass der Fortschritt, den wir tagsüber erzielen, nachts, wenn die Kinder in die Kanalisation gehen, wieder verloren geht.“ Für die Zukunft hat Parada neue Unterkünfte geplant und dafür bereits ein Grundstück außerhalb von Bukarest gekauft. Noch vor dem nächsten Winter sollen dort 28 Kinder untergebracht werden. Denn je länger die Kinder sich auf der Straße durchschlagen müssen, desto schwerer wird es für sie, sich ein anderes Leben vorzustellen.

Der Erfolg der Reintegration ist deutlichhöher, wenn die Kinder erst seit Kurzem obdachlos sind, denn dann hatten sie meist noch keinen Kontakt zu Drogen und sind noch nicht HIV-infiziert. Ein Versuch, den Kindern Kondome zur Verhütung mitzugeben, scheiterte. Bereits am nächsten Tag verkauften sie diese auf dem Markt. „So funktioniert die Straße“, seufzt Aloisio.

Jonglierende Jungen und Mädchen

Tagsüber sieht es ganz heiter aus: In ihren Kostümen wirken die Kinder wie professionelle Artisten Foto: Parada

Neben Problemen wie Krankheiten muss Parada auch täglich mit dem Fehlen von Ausweispapieren oder dem Stehlen der Kinder zurechtkommen. „Jeden Tag gibt es neue Schwierigkeiten“, erzählt Alosio: „Wer bei Parada ist, muss verrückt sein. Alle hier sind ein bisschen irre. Die Kinder, das Personal, einfach alle.“

Es gibt Situationen, in denen die Kinder durchdrehen, in denen ihre Erfahrungen mit Gewalt an die Oberfläche drängen und nicht mehr kontrollierbar sind. Das ist der Moment, in dem auch ein unbeteiligter Passant einen Blick hinter die Maske der Straßenkindern erhascht. Denn so wie im Zirkus die Schminke die Narben kaschiert, verdeckt das Lachen der Kinder ihre oft schrecklichen Erfahrungen.

Vor dem Gebäude des Zirkus stehen ein paar Kids – Freunde, die zusammen Spaß haben und sich gegenseitig necken. Antonio möchte, dass sein älterer Kumpan stillhält. Er will ihm die Bartstoppeln am Kinn kraulen. Der Junge lässt es geschehen. Sie sind eine Familie, denn wem sonst sollen sie vertrauen, wenn nicht denjenigen, die ihr Schicksal teilen?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.