Regionale Mini-Documenta: Nichts ist, wie es scheint

Der Bremer Kunstfrühling präsentiert viele Künstler aus dem hassgeliebten Hamburg. Und mit ihnen das stetige Changieren zwischen Realität und Illusion.

Charme des Morbiden: Alexander Rischers Fotos in Bremens altem Güterbahnhof. Bild: Jens Weyers OC

BREMEN taz | Bröckelnde und schrundige Zeichen des Alterns, klaffende Wunden ehemaliger Nutzung, einstürzende Mauern, rotbrauner Stahl, Schienen ins Nirgendwo: Dem Charme der Brache erliegen Künstler gern, denn dort riecht es nach Außenseitertum, und das ist ein wirkungsvoller Kontrast zur gefühlten Vitalität des eigenen Schaffens.

Geradezu ideal sind dafür die riesigen Ausmaße der Gleishalle des ehemaligen Bremer Güterbahnhofs. 14.000 Quadratmeter ist er groß, und was als kuscheliges Treffen Bremer Künstler begann, hat sich der Metropolregion Bremen-Oldenburg geöffnet und zum formidablen Kunstfestival entwickelt. Diesmal hat der alle drei Jahre stattfindende Kunstfrühling des Bremer Verbandes Bildender Künstlerinnen und Künstler die hassgeliebten Nachbarn aus Hamburg als Partner geladen. Claus Mewes, Ex-Chef des Hamburger Kunsthauses, rief dann auch in der „Szene Hamburg“ zum Aufbruch. „Ab nach Bremen“, forderte er. Einen bunteren Überblick über das aktuelle professionelle Kunstschaffen an Elbe und Weser werde es so schnell nicht wieder geben.

Für diesen Imagegewinn hat Bremen die Schatulle weit geöffnet: Etwa 250.000 Euro kostet die Leistungsschau. Die Hälfte davon tragen Sponsoren, die andere die Bremer Kulturbehörde. Hamburg legt 5.000 Euro dazu.

Noch bis zum 25. Mai wird die regionale Mini-Documenta gefeiert, Dauer: zehn statt der Kasseler 100 Tage sowie eine Messe, die „Art Nordniedersachsen“ betitelt werden könnte. Einerseits ist das eine Einladung zum Flanieren, anderseits zum Informieren und Kennenlernen. Museen, Kunstvereine, Galerien, Produzentengemeinschaften und Atelierhäuser werben für Künstler, Ausstellungen, Ideen.

Nicht einfach käuflich

Im Gegensatz zu kommerziellen Veranstaltungen kann man beim Kunstfrühling Präsentationsfläche aber nicht kaufen: Die Hamburger Kunstkritikerin und Kuratorin Belinda Grace Gardner hat die Institutionen ausgewählt – je 40 aus Hamburg und dem Großraum Bremen. Trotzdem ist auch Geschmäcklerisches zu sehen, das kaum mehr ist als Wohnraumdesign oder die Nachahmung bekannter Positionen.

In den hinteren Hallenbereich lockt die Ausstellung „Notausgang am Horizont“. Dort hat der Berliner Kurator Ludwig Seyfarth seine Best-of-Schau realisiert, in der 38 der eingeladenen 67 Künstler aus Hamburg kommen. In der Metropolregion Bremen-Oldenburg sei er nicht so fündig geworden, sagt er. Die Hamburger Szene sei aber „sehr lebendig“.

Die repräsentiert vor allem eines: Vielfalt. Mit frisch gebastelten Installationen und Performances wird die Halle bespielt, an Computerbildschirmen, mit Kameras und realen Pinseln geschaffene Bildwelten buhlen um Aufmerksamkeit.

"Sehr unterschätzt"

Die Bremer Szene beschreibt Seyfarth als „sympathisch unaufgeregt und sehr unterschätzt“. Da Kunst für ihn vor allem visuell funktionieren müsse, sei er beeindruckt vom Einfluss der Bremer Ex-HfK-Professorin Karin Kneffel. Wie ihre Schülerinnen die handwerklichen Möglichkeiten der Malerei nutzten, das könnte ein Markenzeichen der Bremer Kunst sein, sagt er und verweist auf Sibylle Springer. Geheimnisvoll verhüllt sie ihre Bildmotive hinter impressionistisch wirkendem Nieselregen aus Farbpunkten.

Auch die Bremerinnen Karen Koltermann und Patricia Lambertus schätzt er sehr. Die eine malt in Fotos abgewrackter Schiffe surreale Eis- und Wüstenlandschaften hinein. Die andere beklebt eine 30 Meter lange Stellwand. Von Ferne vermittelt sich der illusionsmalerische Panoramablick, beim Nähertreten bleibt nur eine durchlöcherte Collage aus Kriegsbildern und Tapetenresten.

Solcherlei Täuschung entspricht Seyfarths beiläufig ausgelegtem roten Faden: Nichts ist, was es zunächst scheint. Was Mei-Shiu Winde-Liu zum Beispiel von der Decke hängen lässt, sind keine wassergefüllten Plastiktüten, sondern aus Harz gegossene Illusionen mit Wasser gefüllter Plastiktüten. Und Dominik Becks Muster auf der Drehscheibe ist, wenn man es durch eine Kamerablende fixiert, ein Hakenkreuz.

„3 Hamburger Frauen“ wiederum malen Teppichmuster auf Leinwand und legen sie aus. Alexander Rischer porträtiert verwitterte, mittelalterliche Objekte, die auf Riten verweisen, die keiner mehr kennt. Und während die Veranstalter froh sind, das Hallendach dicht bekommen zu haben, stellt Heiko Wommelsdorf unbeirrt schwarze Plastikeimer auf den Boden und lässt Wasser hineintropfen, sodass im Katalog von einer Klang-Raum-Skulptur die Rede ist, die Minimal Music komponiere.

Den Mittelpunkt der Schau bildet Michael Dörners in die Luft gehängtes, rot bepinseltes Geviert zum Hineinklettern. „Wer hat Angst?“ lautet der Titel. Wer keine hat, gelangt in Uropas Vitrine mit Schalen, Kelchen, einem ausgestopften Fuchs.

Zu all den Werken ist es natürlich möglich, sich Gedanken zu machen, in denen der Ausstellungstitel – „Notausgang, Horizont“ – vorkommt. Muss aber nicht. Der Kunstfrühling ist ein in fast alle Richtungen sprießender Genuss.

Bremer Kunstfrühling: bis 25. 5., Gleishalle am Güterbahnhof, Beim Handelsmuseum 9
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