Radrennklassiker Giro d'Italia: Nach Doping wird nicht gefragt

Der Giro d’Italia ist das Rennen des Volkes. Tausende radeln den Profis hinterher. Und manch Freizeitsportler weiß ganz genau, wie Epo wirkt.

Mit Watt-Rechnerei à la Wiggins kann dieser Giro-Fan sicher nichts anfangen. Bild: ap

NEAPEL taz | Der Giro d’Italia ist ein Spektakel. Vor 100 Jahren schon waren die Kameras der Kinowochenschau aufgebaut, um Männer in Hut und Anzug zu zeigen, die frenetisch ihre Kopfbedeckungen schwenkten, um die Rennfahrer zu begrüßen, die auf schweren Eisengefährten an ihnen vorbeikeuchten. Im Archiv der französischen Filmproduktionsfirma Gaumont Pathé sind solche visuellen Kostbarkeiten noch heute aufzutreiben.

Geändert haben sich seitdem die Kopfbedeckungen. Basecap statt Zylinder sind en vogue. Die Zweireiher sind von Erdölprodukten in buntester Färbung abgelöst. Auch wird weniger gestanden. Der Giro d’Italia ist das Radrennen, das die meisten Amateurradler motiviert, sich selbst auf das Zweirad zu schwingen und halbe oder sogar ganze Etappen unter die Pedale zu nehmen.

Gut, ausgerechnet am Startort Neapel ist Fahrrad fahren aufgrund der Hügel und der erst jetzt neu asphaltierten Straßen nicht sehr beliebt. Doch je weiter man gen Norden kommt, desto größer wird die Dichte an Männern und immer mehr Frauen, die sich zu einer schönen Ausfahrt treffen.

Während sich in Frankreich neben der Tourstrecke die Campingtische unter dem Gewicht von Wein in Flaschen und Huhn im Wein biegen, was direkte Auswirkung auf die Leibesumfänge hat, sind die Straßen des Giro von durchmodellierten Körpern gesäumt. Die gegenwärtig in der Politik so beliebte Parole des Gürtel-enger-Schnallens beherzigt das Rad fahrende Volk hierzulande seit Längerem aus eigenem Antrieb.

Segen für das Rosa Trikot

Dass freilich auch die negativen Seiten des Rennsports fest in Volkes Seele verankert sind, lässt sich an einer Erzählung des Doyens des italienischen Radsportjournalismus, Eugenio Capodacqua, ablesen. Der frühere Repubblica-Redakteur fährt selbst Altersklasserennen. Bei einem solchen wunderte er sich „über einen fast zwei Zentner schweren Mann, der trotz dieses Gewichts mit leichtem Tritt am Berg an mir vorbeizog“, erzählte Capodacqua der taz.

Als er ihn wieder einholte und nach seinem Training fragte, sagte dieser ganz offenherzig – und ohne in Capodacqua einen der hartnäckigsten Dopingrechercheure des Landes zu vermuten: „Ich bin Arzt. Ich weiß, wie das mit Epo funktioniert und wie ich da herankomme.“

Wissen tun das viele. Was nicht heißt, dass diese vielen dopen oder Doping tolerieren. Doch in katholisch geprägten Ländern wie Italien hat sich als hohe Kunst herausdifferenziert, Tugend und Sünde in paradoxer Balance zu halten. Vielleicht auch deshalb segnete Anfang der Woche Papst Franziskus das Rosa Trikot.

Die Kunst der Vereinbarung des Unvereinbaren dürfte denn auch die Ursache für die Freude von Sir Bradley Wiggins am Giro d’Italia gewesen sein. „Ich finde es klasse, dass vor dem Giro keine einzige Frage zu Doping gestellt wurde. Bei der Tour de France wird dauernd danach gefragt. Aber hier in Italien liebt man den Sport. Medien sind nicht für negative Geschichten da“, gab er dem Branchendienst Cyclingnews.com kund.

Da hat der Mann mit dem Backenbart gar nicht einmal unrecht. Sein Selbstverständnis als Sportjournalist schilderte ein Kollege der Gazzetta dello Sport einmal mit dem Vergleich: „Wir sind die Nachtigallen, die die schönen Taten besingen.“

Kurierfahrten für die Kommunisten

An schönen – und schrillen – Taten hat der Giro d’Italia freilich einiges zu bieten. Beliebte Legende ist die Freundschaft zwischen dem zweimaligen Giro-Sieger Costante Giradengo (1919 und 1923) und dem anarchistischen Banditen Sante Pollastri. Pollastri reiste Girardengo sogar zu einem Rennen nach Paris nach, wo er 1927 von einem Polizisten festgenommen wurde.

Eine Enkelin Girardengos verwies die Geschichte der Rennfahrer-Banditen-Freundschaft zwar ins Reich der Fantasie. Weil die Dame sich aber offen als Berlusconi-Wählerin bekannte und eine nicht sonderlich große Affinität zwischen diesem Wählersegment und anarchistischem Gedankengut bekannt ist, darf man ihr ein gewisses Eigeninteresse an der Darstellung der Familiengeschichte unterstellen und das Dementi nicht ganz ernst nehmen.

Wesentlich besser belegt sind die Kurierfahrten auf dem Rad, die Gino Bartali inmitten seiner drei Girosiege (1936, 1937 und 1946) für kommunistische Partisanen bei deren Kampf gegen die Besatzung durch die Wehrmacht unternahm. Bartali ist ein Gigant des italienischen Radsports, weil er wie kein Zweiter Moral und Mut verkörperte und sich außerdem noch hinreißende Duelle mit dem zweiten großen Rennfahrer seiner Epoche, Fausto Coppi, lieferte. Die Rennen dieser beiden waren durch permanente Attacken, heroische Aufholjagden und auch, als Kehrseite aller Anstrengungen, eklatante Einbrüche, gekennzeichnet.

Penible Watt-Rechnerei

Sie haben sehr wenig mit der peniblen Watt-Rechnerei von Wiggins’ Rennstall Sky gemein. Über die regte sich der große Herausforderer Vincenzo Nibali vorsorglich auf: „Man sollte die Kraftmesser von SRM verbannen. Dann werden die Rennen wieder interessanter.“ Er begründete seinen nur halb im Spaß gemeinten Vorschlag mit dem „wissenschaftlichen Ansatz“ von Team Sky. „Froome und Wiggins schauen mehr auf ihre kleinen SRM-Kästchen als auf die Konkurrenz. Sie wollen ihre Anstrengungen immer kontrollieren. Sie vergessen aber, dass Rennen auch mit Instinkt gefahren werden.“

Der zum kasachischen Team Astana abgewanderte Sizilianer zeigte bereits, wie man mit dieser Ressource die Kalkulierer im Rennsattel aus demselben fährt. Bei einem Regentag beim Tirreno Adriatico attackierte er Wiggins’ Stallgefährten Chris Froome und holte sich die Rundfahrt. „Wenn es regnet, braucht man starke Beine und Courage“, frohlockte Nibali damals.

Doch Wiggins hat schon begriffen: „Man kann den Giro nicht so kontrollieren wie die Tour“, bemerkte er. Deshalb hat er sich im Höhentraining auf Teneriffa mehr Muskeln für explosive Antritte in den Bergen zugelegt. „Ich bin niemals so gut wie jetzt die steilen Anstiege hochgekommen“, gab er bekannt. Skys Trainingsmastermind Tim Kerrison bestätigte diese Meinung – natürlich anhand der Leistungsdaten laut SRM.

Kerrison traut Wiggins jetzt sogar Attacken am Berg zu: „Die Leute sagen, Bradley könne Attacken gar nicht mitgehen und erst recht nicht selber angreifen. Er hat das bisher nur nicht zeigen müssen.“ Wenn Kerrison recht hat und es dem Giro gelänge, aus einem Kalkulierer wie Wiggins einen heißblütigen Angreifer zu machen, dann wäre das die schönste Transformation im modernen Radsport. Dann wäre der Giro endlich wieder ein Hort der Legendenbildung. Nicht dass jemand gewinnt, macht eine Legende aus. Allein die Art und Weise, in der jemand gewinnt, macht den Reiz aus, der der Nacherzählung wert ist. Nachtigallen hoffen auf Sangesmaterial.

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