Radrennen in der Toskana: Helden auf Vintage-Rädern

Straßenfahren ist Ihnen zu öde, Mountainbiking zu krass? Dann gehen Sie auf Schotterpisten beim Rennen L’Eroica in der Toskana.

Menschen mit Fahrrädern auf einem nebligen Feldweg

Am frühen Morgen bei Castello di Brollio Foto: Markus Kirchgessner

Nur nicht absteigen. Das sage ich mir jetzt wohl schon zum zehnten Mal. Und doch bin ich kurz davor. Meine Beine brennen. Mein Puls ist sicher bei 200. Ich quäle mich auf einem antiquierten Rennrad. Das Ambiente: einen nicht enden wollenden Feldweg hinauf – und das bei gefühlt 20 Prozent Steigung. Unter mir: der schönste Schotter Italiens. Dieser verflixte Anstieg muss doch endlich mal vorbei sein! Ist er nicht. Seit 20 Minuten schleiche ich im Wiegetritt hier hoch. Die meisten Mitstreiter haben bereits aufgegeben, schieben ihr Rad den Berg hoch. An der nächsten Kehre taucht eine Gruppe Zuschauer auf. „Avanti! Viva l’Eroica!“, rufen sie uns zu.

Es lebe die Heldenhafte! So gar nicht heldenhaft, sondern komisch muss es aussehen, wie ich kurz vor dem Kollaps mit ungefähr sechs Kilometern die Stunde kaum merklich schneller an den schiebenden Leidensgenossen vorbeischnaufe. Eine Ausfahrt mit Vintagefahrrädern durch die Toskana hatte ich mir entspannter vorgestellt.

Die Eroica startet immer am ersten Oktoberwochenende in dem Bergdorf Gaiole im Chian­ti und führt die beiden aktuellen Rennradtrends zusammen: Gravel-Racing und Vintage-Bikes. Mit alten Rennrädern (Baujahr 1987 oder früher, Nachbauten sind erlaubt) geht es auf Schotterwegen – den berühmten strade bianche (weiße Straßen) – durch die Hügel der Toskana, eines der schönsten Bike-Reviere Europas. (Es gibt die Eroica auch in den Niederlanden.)

Gravel-Racing gibt es hier schon ewig. Bereits Radsportlegende Gino Bartali hat in den 1940ern seine Runden auf Schotter gedreht. Seit 1997 veranstaltet der Italiener Giancarlo Brocci die Eroica, immer im Oktober. Das Besondere: Es gibt keine Zeitmessung, es geht hier nicht darum, Erster zu werden. Mitfahren und durchhalten ist alles. Man bekommt eine altertümliche Faltkarte, die an den festgelegten Streckenpunkten abgestempelt wird. Klickpedale sind genauso verpönt wie GPS-Computer und Pulsmesser. Die Räder haben Stahlrahmen, Unterrohrschalthebel und im besten Fall Pedalhaken, um die Füße zu fixieren.

Wolle statt Lycra

Die Klamotten sollten ebenfalls vintage sein – heißt: Wolle statt Lycra. Wer sich nicht daran hält, der wird disqualifiziert. Helme sind erlaubt, aber nicht Pflicht. Klingt nach einer Kostümparty. Ist es aber nicht, sagt Gründer Brocci immer wieder: „Es geht darum, das Radfahren wie die Champions von einst zu erleben, den alten Geist des Sports zu spüren.“

Diesen Geist spüre ich schon, als ich mir mein Leihrad am Vortag des Rennens abhole. In Gaio­le herrscht Jahrmarktstimmung, das kleine Bergdorf platzt aus allen Nähten. Überall bunte Wolltrikots mit den Schriftzügen legendärer Rennradmarken. Schnauzbartträger mit abgewetzten Lederschuhen schieben ihre Stahlrenner durch die Gassen. Willkommen im größten Open-Air-Museum des Radrennsports!

Giancarlo Brocci, Organisator

„Es geht darum, das Radfahren wie die Champions von einst zu erleben, den alten Geist des Sports zu spüren“

Waren es 1997 gerade mal 92 Retrobiker, sind es beim 20. Jubiläum 2016 knapp 7.000 Radbegeisterte, die sich der Herausforderung stellen. Wer selbst kein Vintagebike besitzt, kann sich vor Ort eines leihen. Allerdings sollte man dies wegen der großen Nachfrage Monate im Voraus erledigt haben.

So habe auch ich es gemacht und bekomme ein schickes, blau-weißes Atala aus dem Jahre 1984 ausgehändigt. „Ist perfekt für Sprints“, witzelt mein Mitfahrer Bregan Koenigseker über meine minimalistische Fünffachkassette hinten. Er weiß genau, wie wenig mir die bei Anstiegen helfen wird. Ich bin trotzdem zufrieden, mein Leihbike ist gut in Schuss. Auf dem relativ neuen Ledersattel sitzt es sich allerdings wie auf einem Ziegelstein. Das kann ja heiter werden!

Stolzgeschwellte Brust

Eigentlich geht es hier um nichts. Trotzdem bin ich nervös. Alle fünf Streckenalternativen (zwischen 46 und 205 Kilometer lang) haben es in sich. Ich habe mich für die 75 Kilometer entschieden, was mir in diesem Augenblick wenig heldenhaft vorkommt. Doch Bregan ist da anderer Meinung: Die 75 sind echt hart. Ernsthaft.“ Im Dorf sind die Gassen voller Radfahrer mit Karosocken, Schiebermützen und Fliegerbrillen, die ihre Museumsrenner mit stolzgeschwellter Brust zum Start rollen. Dann geht’s los.

Der erste Stempel ist im Buch, die Aufregung verflogen. Ich trete in die Pedale. Broccis Worte zur Eroica fallen mir wieder ein: „Es geht um die Schönheit des totalen Sichverausgabens.“ Was das heißt, werde ich bald erfahren, und zwar bei der ersten richtigen Bergwertung kurz vor dem Castello di Brolio. Eine steile, enge, von Zypressen gesäumte Schotterstraße führt zu der malerischen Festung. Der Weg ist mit Fackeln beleuchtet, was im morgendlichen Nebel mystisch wirkt.

Es ist sehr voll, sämtliche Routen führen hier durch. Oben angekommen ist mein kratzendes Wolltrikot triefnass. Mir wird schlagartig klar: Das hier ist keine Spazierfahrt. Dann stimmt hinter mir eine Gruppe Italiener ein aufmunterndes Liedchen an. Das ist er wohl, der Geist des Radsports.

Wir preschen mit ungefähr 50 Sachen eine steile Rampe hin­un­ter. Bin ich eigentlich total bescheuert, dass ich das hier riskiere? Auf dem Kopf nur ein Stofffetzen, unterm Hintern ein ächzendes Stahlross, das schon mal bessere Zeiten gesehen hat. Tatsächlich ist dieses Rennen nicht ungefährlich: der ungewöhnliche Untergrund, die ungewohnte Handhabung der Räder – und möglicherweise auch das eine oder andere Glas Wein, der an den Essensstationen wie Isodrinks ausgegeben wird.

Es fühlt sich gut an

Den Luftdruck habe ich vorsorglich am Morgen vor dem Rennen etwas reduziert. Das gibt mehr Grip auf dem lockeren Untergrund. Nur leider wird mir das bei dem längsten und schwierigsten Anstieg kaum helfen. Die Strecke führt durch eine enge Gasse im kleinen Bergdorf Panzano. Dort verteilt der ansässige Schlachter an die Teilnehmer großzügig Schmalzbrote und Salamischeiben auf die Hand.

Kurz darauf startet die steile Tortur. Nach 30 Minuten bin ich mir sicher: Ich kann nicht mehr! Als ich meine Oberschenkel schon gar nicht mehr spüre, habe ich das erste Erfolgserlebnis: Ein Typ auf einem Singlespeed, der mich vor ein paar Stunden forsch überholt hat, ist abgestiegen. Ich rolle an ihm vorbei. Dann die Rufe: „Viva l’Eroica!“ Der Weg wird flacher.

Den Rest nehme ich wie benebelt wahr: Zypressenalleen auf dem Weg zurück nach Gaio­le, jubelnde Zuschauer. In einer Gruppe rolle ich über die Ziellinie. Als ich an der Medaillenausgabe anstehe, tauchen die ersten abgekämpften Bezwinger der 205-Kilometer-Strecke auf: Nach 12 bis 15 Stunden im Sattel sind das für mich die wahren Helden.

Aber ich glaube, den Gedanken hinter all den Retroreglements verstanden zu haben: es sich im Leben nicht immer nur möglichst leicht zu machen. Das fühlt sich richtig gut an. Als ich abends todmüde und überglücklich ins Bett falle, verstehe ich, was Brocci mit der Schönheit des totalen Sichverausgabens gemeint hat. Das ist ein herrliches Gefühl!

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