Radikales Nachbarschaftsnetzwerk: Das Gesicht der Armut

Im Hamburger Schanzenviertel sitzt eine Frau unter der S-Bahn-Brücke und spielt Akkordeon. Eine Gruppe NachbarInnen will sie aus der Armut holen.

Dorina sitzt mit ihrem Akkordeon unter der S-Bahn-Brücke

Unfreiwillige Akkordeonspielerin: Dorina spielt um zu überleben. Das klingt so mittel und macht wenig Spaß. Lieber würde sie alles andere arbeiten Foto: Clubkinder

HAMBURG taz | | Ausnahmsweise sitzt sie heute nicht unter der Sternbrücke: Die Akkordeonspielerin mit Kopftuch oder Kapuze, die tagein, tagaus unter der S-Bahnbrücke Sternschanze sitzt und immer das gleiche Lied spielt. Den Vorbeikommenden nickt sie lächelnd zu, grüßt freundlich.

Dorina nennen die Leute die 24-jährige Rumänin. Sie heißt wahrscheinlich anders, aber das ist egal, soll egal sein. Ohne Zweifel ist sie die Hauptperson dieses Samstags: Auf dem Platz an der Sternschanze, gegenüber der S-Bahn, wird ein Fest für Dorina gefeiert. 24 Stunden Straßenmusik für eine Straßenmusikerin. Nur, dass sie selbst gar nicht dabei ist.

„Dorina ist gerade bei ihrer herzkranken Mutter in Rumänien“, erklärt Anna K. Sie ist Teil der Gruppe, die sich vor über einem Jahr gegründet hat, um Menschen wie Dorina zu helfen. „Radical Neighbourhood“ nennen sie sich, zusammen wollen sie „der Armut in den Arsch treten“.

Im Frühjahr 2014 haben sich „zwei Handvoll Leute“ um Georg Möller zusammen getan, erzählt Anna K. Georg Möller ist einer jener AktivistInnen, die in Hamburg überall mit drin hängen: Gängeviertel, Recht auf Stadt, Flüchtlingsarbeit, kennt jeden, ist überall. Bei Facebook hat er die Gruppe „Radical Neighbourhood“ gegründet, die mittlerweile 115 Mitglieder hat. Regelmäßige Treffen gibt es nicht, auch kennen sich nicht alle Mitglieder.

Aber die spontane Soforthilfe funktioniert: Dank der radikalen NachbarInnen hat Dorina mittlerweile ein Bankkonto, auf das mehrere Mini-Daueraufträge über einen Euro monatlich eingehen. Ein Handyladen in der Schanze hat ein Handy rausgegeben, jemand hat eine SIM-Karte organisiert. Jemand anders hat Dorinas Schulden fürs Schwarzfahren übernommen und eine Anwältin hat sie umsonst vor Gericht vertreten.

„Man kann Armut kennenlernen“, sagt Georg Möller. „Und dafür muss man hingucken.“ Nicht 50 Cent in einen Bettelbecher werfen, sondern stehen bleiben, fragen, reden. Die Mitglieder der Radical Neighbourhood reden mit Dorina, wenn sie vorbeikommen. Dann posten sie in die Facebookgruppe, was die Akkordeonspielerin gerade braucht. Meistens kommt kurze Zeit später jemand zur S-Bahn-Brücke, bringt es ihr. „Manchmal muss ihr das fast schon ein bisschen gruselig vorkommen“, sagt Anna K.

„Der Armut ein Gesicht geben“

Den Anstoß für das Nachbarschaftsnetzwerk hatte ein Gespräch zwischen Georg Möller und Dorina gegeben. Auf die Frage, wie es ihr ginge, hatte die Akkordeonspielerin gesagt, ihre Mutter sei im Krankenhaus in Rumänien und sie wolle sie besuchen – dafür fehlten ihr 140 Euro. „Da hab ich meinen Freund Tim Mälzer angerufen, der gegenüber der Sternbrücke ein Restaurant betreibt“, erzählt Möller. „140 Euro für eine gute Sache – kein Problem!“, habe der prominente Koch gesagt. Georg Möller allerdings sei nachdenklich geworden: „Es kann doch nicht angehen, dass das kein Problem ist, wenn man Leute kennt, die Geld haben, aber ein riesiges Problem, wenn man arm ist.“ Eine andere Lösung müsse her, habe er beschlossen.

Die Radical Neighbourhood will in „konkreten Fällen konkrete Hilfe leisten“, sagt Möller, „und der Armut ein Gesicht geben.“ Das erste Gesicht sei das von Dorina. Warum – eignet sie sich besonders gut, weil sie hübsch und freundlich aussieht, einen super Platz im Szeneviertel hat und eine Frau ist? Der Aktivist streitet das ab. „Das spielt keine Rolle“, sagt er. „Es hätte auch ‚ne Sabberbacke sein können.“ Auf Dorina haben sich die NachbarInnen am schnellsten einigen können. Jeder kannte sie. Anna K. sagt, Dorina sei das „erste zufällige Zielobjekt“ des Nachbarschaftsnetzwerks. Es könnte auch wer anders in einer Notlage sein. Nur: Um alle auf einmal kann man sich nicht kümmern – bei irgendwem muss man ja anfangen.

Dorin sitzt im dritten Jahr als Akkordeonspielerin unter der S-Bahn-Brücke. Vorher hatte ihre Mutter den Platz. Bis sie zu krank wurde: Herzprobleme. Sie musste operiert werden, hatte in Deutschland keine Versicherung, musste zurück nach Rumänien. Dorina schläft mit ihrem sechsjährigen Sohn in einer Halle im Industriegebiet. Für fünf Euro pro Matratze pro Nacht. Als Dorinas Mutter noch hier war und ihr Vater noch lebte, waren das vier Matratzen, also 20 Euro Pro Nacht. Das macht 600 Euro im Monat.

„Verbrecher“, könnte man über die Leute sagen, die mit der Armut anderer schamlos Profit machen, die die Ärmsten der Armen ausbeuten, indem sie ihnen so viel Geld für einen Platz auf einer siffigen Matratze abnehmen, weil manche keine Chance auf dem Wohnungsmarkt haben. Man könnte die Polizei hinschicken – und dann? Dorina und die anderen müssten vermutlich im Park schlafen. „Verbrecher sind nicht diejenigen, die sich an der Armut der anderen bereichern, sondern verbrecherisch ist das System, das das zulässt“, sagt Anna K.

„Aber was wäre die Alternative?“

Sie und die anderen NachbarInnen haben die Hoffnung verloren, dass sich das in naher Zukunft ändern wird. Deshalb haben sie beschlossen, zu tun, was der Staat eigentlich tun müsste: Menschen in Not helfen.

Es ist die gleiche Problematik wie bei der privaten Flüchtlingshilfe: Solidarische NachbarInnen und BürgerInnen übernehmen Aufgaben, für die der Staat zuständig ist. Der Staat wird sehen, dass es funktioniert und die private Hilfe in Zukunft einkalkulieren. Folglich wird er noch weniger versuchen, den Aufgaben eines Sozialstaats nachzukommen. „Aber was wäre die Alternative?“, fragt Anna K. „Soll man deshalb nicht helfen – damit es den Menschen weiter schlecht geht?“ Sie schüttelt den Kopf. „Das ist keine Option.“

Georg Möller sagt: „Der Staat geht mir auf den Senkel.“ Das System schaffe Armut, statt sie zu bekämpfen – daher müsse man sie eben selber bekämpfen. Dorina sei ein Anfang und die Radical Neighbourhood eine Blaupause zum Nachahmen für andere Vereinigungen in anderen Quartieren. „Ihr könnt auch eine Radical Neighbourhood gründen“, wendet er sich bei dem Straßenmusikmarathon an das Publikum. „Es ist ganz einfach.“ Die ZuschauerInnen klatschen fleißig und schmeißen Geld in die Spendenboxen. Sie kaufen Bier und Bratwurst und manche versprechen, Daueraufträge für Dorinas Konto einzurichten.

Vielleicht ist es Dorina ganz recht, dass sie bei ihrer eigenen Benefizveranstaltung nicht dabei ist. Wer sie kennt, weiß, dass sie eine schüchterne Person ist. Bescheiden und zurückhaltend wirkt sie, während sie freundlich lächelnd, aber ohne Worte die Leute, die vorbeigehen, grüßt. „Es hat auch mit Würde zu tun“, sagt Anna K. „Das Elend und die Misere von anderen aufzeigen, das ist natürlich schwierig.“ Ein Ziel von Radical Neighbourhood ist es aber, Aufklärung über Armut zu leisten. Noch so ein Widerspruch, den sie nicht auflösen können.

„Wenn dein Sohn keine Schuhe hat“

Aber die Frage, wie Dorina findet, was um sie herum für sie passiert, sei ohnehin eine Luxusfrage, meint Anna K. „Wie soll sie es schon finden?“, fragt sie. „Wenn dein Sohn keine Schuhe hat und es kommt jemand vorbei und bringt dir welche – überlegst du dir dann, wie du das findest?“

Am Sonntagmorgen sind 3.000 Euro bei dem Straßenfest zusammengekommen, 1.000 BesucherInnen waren im Laufe der Nacht da, schätzen die VeranstalterInnen. Die „Clubkinder“, ein gemeinnütziger Verein, der Musikevents für gute Zwecke ausrichtet, haben das Musikalische organisiert. Sie haben die Technik herangeschafft und die StraßenmusikerInnen engagiert, die noch bis Sonntagnachmittag auf dem Platz an der Sternschanze spielen, während die ZuschauerInnen Soli-Buttons kaufen und Bier für einen guten Zweck trinken.

Das Ziel ist, 6.000 Euro zusammenzubekommen. Damit soll die Miete für eine kleine Wohnung für Dorina und ihren Sohn ein Jahr lang bezahlt werden – damit sie aus dem Matratzenlager herauskommen, damit sie nicht mehr Akkordeon spielen muss. Die Wohnung hat das Nachbarschaftsnetzwerk allerdings noch nicht gefunden. Sie trauen es sich fast nicht zu sagen: „Möglichst hier in der Nähe, Sternschanze oder St. Pauli.“ Sie wissen, dass das utopisch ist.

Wenn Dorina am heutigen Montag aus Rumänien zurückkommt, ist sie obdachlos. Wer länger weg bleibt, verliert den Anspruch auf die Matratze in der Halle im Industriegebiet. Anscheinend gibt es dort viele InteressentInnen.

Die Radical Neighbourhood will weiter machen, wenn Dorina „einigermaßen stabilisiert ist“, wie Georg Möller sagt. Als nächstes ist Hermine dran. Eine alte Frau, die mit einem blauen Sparschwein vor einem Drogerieladen im Schanzenviertel steht. Radical Neihbourhood will eine dauerhafte Struktur etablieren. Vor allem aber wollen sie zum Nachmachen anregen. Denn die Liste der Bedürftigen ist lang.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.