Rad fahren in Tokio: Kamikaze unterwegs

Eine widersprüchliche Sache: Der japanische Komfortradler schwankt zwischen Todesverachtung und Bequemlichkeit.

Ein Mann und eine Frau fahren in Business-Kleidung Fahrrad in Tokio

In Japan ist der Sattel auffällig niedrig eingestellt. Dadurch können die Beine nicht die volle Kraft auf die Pedale bringen Foto: zuma press/imago

TOKIO taz | Mit dem Fahrrad durch Tokio zu fahren, ist ein solches Vergnügen, dass ich mein erstes Fahrrad extra in der Innenstadt gekauft habe. Von dort konnte ich 16 Kilometer durch die halbe Hauptstadt zu meiner Wohnung fahren. Das Vergnügen besteht darin, dass der Asphalt auf Tokios Straßen so perfekt ist. Schlaglöcher und Rollsplitt gibt es fast gar nicht. Dazu haben Radfahrer auf den großen Straßen die linke Spur (hier herrscht Linksverkehr) fast allein für sich. Die Autofahrer meiden sie wegen der Kurzparker und Abbieger.

Mein Vergnügen wird von den wenigsten Japanern geteilt. Ihnen ist Radfahren auf der Straße viel zu gefährlich („Abunai!“). Das ist die allgemein verbreitete Ansicht. Denn außer Fahrradkurieren war ich auf dem Heimweg der einzige Radler auf der Straße.

Das hat Folgen: Vor allem die vielen Lieferwagen sind nicht darauf eingestellt, beim Abbiegen auf Radfahrer zu achten. Der japanische Autofahrer hält auch den Sicherheitsabstand von einem Meter nicht ein. Ihre Außenspiegel kommen dem eigenen Lenker oft sehr nahe. Und wer sich mit dem Fahrrad auf der Abbiegerspur einordnet, wird von hinten weggehupt. Dieser Stil ist in Japan unbekannt. Die meisten Japaner radeln nämlich nur auf dem Bürgersteig.

Eigentlich müssen sie die Straße benutzen, wenn sie älter als 13 und jünger als 70 Jahre sind. Aber falls die Straße „gefährlich“ ist, dürfen sie bei den Fußgängern bleiben. Die japanischen Radfahrer, die sich doch auf die Straße wagen, sind direkte Nachfahren der Kamikazepiloten des Zweiten Weltkriegs. Da gibt es jene Verrückten, die auf der falschen Seite dem Verkehr entgegenfahren. Auf den meist schmalen Straßen müssen Autos ihnen ausweichen oder bremsen.

Gescheitertes Konzept zur Verkehrserziehung

Bei Regen wird einhändig mit aufgespanntem Schirm in der anderen Hand gefahren, bei trockenem Wetter sieht man sie am Lenker eine SMS tippen. Für Adrenalinstöße sorgen Fahrräder mit Mutter und jeweils einem Kind vorne und hinten, die ohne zu bremsen in Kreuzungen hineinschießen. Auf den Asphalt gemalte Haltebalken mit der Aufschrift „Tomare“ (Anhalten!) werden geflissentlich übersehen. Zwar gibt es für die mir vertraute Vorfahrtsregel „rechts vor links“ im japanischen Linksverkehr keinen Ersatz.

Aber muss man deswegen jede Vorsicht aufgeben?! Das Konzept Verkehrserziehung ist bisher gescheitert. Seit Juni 2015 kann die Polizei Strafzettel für das Überfahren roter Ampeln und Alkohol am Lenker ausstellen. Wer mehrere Strafzettel kassiert, muss einen Sicherheitskurs belegen. Aber nur sieben Radfahrer in ganz Japan traf im Vorjahr dieses Schicksal.

Es gibt noch mehr irritierende Kontraste zwischen Potenzial und Realität beim Radfahren in Tokio. Shimano ist Weltmarktführer für Schaltungen und Fahrradzubehör. Aber auf Shimanos Heimatmarkt ist davon wenig zu merken. Der normale Japaner kauft Billigräder aus China für 100 bis 150 Euro. Das Mittelfeld mit Tourenrädern und Mountainbikes ist in den Läden kaum vertreten. Die meisten benutzen ihren Drahtesel nämlich für Kurzstrecken. Daher soll das Gefährt wenig kosten.

Die Billigräder haben weder Gangschaltung noch Gepäckträger, nur einen Reflektor als Rücklicht, und rosten rasant. Der einzige Komfort ist ein Gepäckkorb am Lenker. Diese Zweiräder tragen den vielsagenden Namen Mama-chari (Einkaufsräder für Frauen). „Das Fahrrad in Japan dient nicht zum Fitwerden, sondern dem Transport von Einkäufen“, erläutert Byron Kidd, Blogger von „Tokyo by Bike“.

Fahrräder als sozialisierbares Allgemeingut

Diese Einstellung hat die unangenehme Konsequenz, dass das Fahrrad in Japan ein Wegwerfartikel ist. Nach Gebrauch lässt man es oft einfach stehen. Der Beweis: In Japan und Deutschland gibt es jeweils 72 Millionen Fahrräder. Aber in Japan werden jährlich 10 Millionen Zweiräder verkauft, mehr als doppelt so viel wie in Deutschland. In den vielen Ständern von Apartmentblocks vergammeln stets einige Räder mit platten Reifen oder verbogenen Felgen.

Ihre Besitzer haben sie beim Umzug einfach dagelassen. Irgendwann werden sie von der Hausverwaltung entsorgt. Junge Leute und betrunkene Angestellte schnappen sich auch gerne mal ein fremdes Rad an ihrem Heimatbahnhof für den schnellen Heimweg und stellen es unterwegs irgendwo ab. Fahrräder werden oft nicht abgeschlossen und gelten wie Regenschirme als sozialisierbares Allgemeingut. Als mir mein Fahrrad am Bahnhof gestohlen wurde, habe ich vergeblich versucht, den Diebstahl bei der Polizei anzuzeigen.

Auch beim zweiten Versuch wurde ich weggeschickt. Es tauche schon wieder auf, meinte der Polizist. Später hat mir ein städtischer Beamter im Vertrauen erzählt, solche Anzeigen würden der Polizeistation die Statistik versauen und daher nicht aufgenommen.

Dazu fährt der Japaner auch noch „anders“ Rad. Zum Beispiel stellt man in Deutschland den Sattel so hoch ein, dass man sich beim Halten mit den Füßen abstützen und mit optimalem Hebel losfahren kann. Aber der Japaner sitzt auf seinem Rad wie der berühmte Affe auf dem Schleifstein. Der Sattel ist auffällig niedrig. Dadurch bleiben die Beine beim Fahren angewinkelt und können nicht die volle Kraft auf die Pedale bringen. Aber in Japan gibt es gefühlt alle zwanzig Meter eine Ampel oder eine Kreuzung.

Viele Arbeitgeber erlauben keine Fahrräder

Bei den vielen Stopps sitzen die Radfahrer auf einem niedrigen Sattel sehr bequem, weil sie ihre Füße platt auf den Boden stellen können. An diese andere Art der Effizienz habe ich mich bis heute nicht gewöhnt.

Ich mache mir auch keine Hoffnungen mehr, dass Tokio bis zu den Olympischen Spielen im Jahr 2020 eine Radfahrerstadt wird. Seit einiger Zeit tauchen auf den großen Straßen zwar mehr Spurmarkierungen für Radfahrer auf. Aber die meisten Bewohner von Tokio bleiben mit ihrem Rad in ihrem Viertel.

Pendler könnten die Radspuren nutzen. Aber viele Arbeitgeber erlauben ihren Mitarbeitern nicht, mit dem Fahrrad zu kommen. Die Fahrten lassen sich nämlich nicht versichern. Auch der Transport von Fahrrädern in den U- und S-Bahnen der Hauptstadt ist wegen der häufigen Überfüllung schlicht unmöglich.

Die japanischen Behörden mögen keine Radfahrer, weil sie die knappen öffentlichen Flächen verbrauchen. In Japan darf man sein Fahrrad nur an gekennzeichneten Flächen abstellen. Die meisten kosten knapp einen Euro für jeweils mehrere Stunden. Viele Radfahrer versuchen daher wild zu parken. Nahe Kreuzungen und wichtigen Straßen werden sie jedoch eingesammelt. In überlaufenen Vierteln wie Shibuya sind das Hunderte pro Tag.

Der Strafgebühr kann man nur schwer entkommen, da alle Fahrräder eine Nummer haben und auf den Namen ihres Besitzers registriert sind. In dieser speziellen Radkultur sind alle Sprossen von einem Zweiradboom vertrocknet, bevor sie sich entfalten können.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.