„Radetzkymarsch“ am Wiener Burgtheater: Reden bis in den Untergang

Johan Simons füllt den Atem der Geschichte von Joseph Roth in bunte Luftballons. Das reicht aber nicht aus, um richtig abzuheben.

Menschen spielen mit Bällen auf einer Bühne

Bunt geht's in Wien zu Foto: Marcella Ruiz Cruz/Burgtheater

Es war einmal ein Leutnant der k. u. k. österreichischen Armee namens Trotta (Philipp Hauß), der warf seinen irdischen Körper während der Schlacht von Solferino (1859) in die Flugbahn einer Kugel, die einem Höheren galt. Er überlebte und sein Kaiser Franz Josef (Johann Adam Oest), auf den das Geschoss zielte, auch.

Solferino war jenes fürchterliche Gemetzel, das später den Anlass zur Gründung des Roten Kreuzes geben sollte. Aber echtes Blut ist in dieser Sache vollkommen unerheblich. Der „Held von Solferino“ hatte nicht einen Einzelnen gerettet, sondern den ideellen Körper der Monarchie. Kraft dessen wandelt Franz Josef den fanatischen Jungspund in den Hauptmann von Trotta.

Die Reihe männlicher Trottas, die es aus einem entlegenen slowenischen Bauerndorf bis in den Amtsadel des kakanischen Militärstaates brachten, ist der durchgängige Faden, an den sich die Erzählung von Joseph Roths 1932 veröffentlichtem Jahrhundertroman „Radetzkymarsch“ immer wieder rückbindet.

Joseph Roth beklagt darin den Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie im Ersten Weltkrieg und weiß zugleich um das leider Notwendige dieses Endes. Es geht ihm nur mitten durch die Existenz.

Den Paternalismus leid

1894 in einem galizischen Schtetl geboren ist ihm das Kaiserreich ein Bezugsrahmen jüdischer Emanzipation. Das dynastische Gebilde war Garant von Rechtsstaatlichkeit, aber eben nicht Demokratie, Agentur für wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, ohne für diese Dynamik eine angemessene politische Form zu finden. Bürgerliche Emanzipation landet unweigerlich in der Form der Nation mit allen ihren mörderischen Konsequenzen. Die Völker sind den Paternalismus, verkörpert im Bild jenes alten Mannes, der über Generationen in jeder Amtsstube hing, irgendwann einfach leid.

Es muss kurz vor dem Weltkrieg gewesen sein, da begegnet der greise Kaiser noch mal einem Trotta. Es ist der Enkel des Helden, in Johan Simons Adaption des Romans am Wiener Burgtheater wiederum Philipp Hauß. Nun eine Endzeitfigur im Redefluss voller Todesahnung, die sich nur im Alkohol und in Leutnantsbekanntschaften mit Damen der Gesellschaft lindern lässt. Johann Adam Oest lässt den Blick des greisen Herrschers über die kaum erkannten Gesichtszüge schweifen. Trotta, aber wann und welcher?

Assoziationen verwischen wie die Spielzeugpferde im Blick auf ein zu schnell drehendes Karussell

Assoziationen verwischen wie die Spielzeugpferde im Blick auf ein zu schnell drehendes Karussell. Die Augen lösen sich vom Objekt der Wahrnehmung, scheinen ins Nichts zu taumeln und landen wieder im Wissen um die eigene Trauer. Was auch immer in diesem Kopf vorgeht, er kommt zu spät und ihn straft das Leben. In diesem Moment tänzerischer Leichtigkeit fängt Johann Adam Oest den gesamten emotionalen Gehalt des „Radetzkymarschs“ ein. Es sollte für die dreieinhalb Stunden eines Theaterabends dennoch zu wenig sein.

Ein großes Versprechen

Das Projekt war ein großes Versprechen, bei dem kaum etwas schiefgehen sollte. Vor knapp einem Jahrzehnt hatten Johan Simons und sein Dramaturg Koen Tachelet an den Münchner Kammerspielen mit einem Text von Joseph Roth ein rares Theaterwunder in die Welt gesetzt. In „Hiob“ (2008) rangen André Jung und seine MitspielerInnen vor einem Kinderkarussell von Bert Neumann mit dem Anspruch Gottes und dem Lauf der Geschichte. Nicht die „Umsetzung“ eines Romans für die Bühne, eher eine Relektüre durch sprechende SchauspielerInnenkörper hindurch, die den Text mehrdimensional mit sinnlichem und analytischem Mehrwert fortschrieb.

Warum nicht einfach erprobte Assets wertsteigernd einsetzen und um neue erweitern? Man nehme Johan Simons, Koen Tachelet, mit Katrin Brack die beste lebende Bühnenbildnerin deutscher Zunge und eben Joseph Roth. Zum „Radetzkymarsch“ drängt die Gegenwart ohnehin. Liefert seine Untergangspoesie etwa die Folie heutiger Verwerfungen? Wo die Monarchie war, droht Europa in autoritäre und nationalistische Zerfallsprodukte zu bersten. Österreich stolpert gerade somnambul ins zweite Abenteuer mit der extremen Rechten in der Regierung. Schließlich die Legitimationsfrage: Hat Theater, zumindest so wie wir es kennen, zu alledem etwas zu sagen?

Die Rache des Bühnenmoments an den Resultaten der Dramaturgieklausur kommt unerwartet. Simons setzt das Ensemble erst einmal im Bühnenhintergrund auf Kreisligafußballplatz-ersatzbänke. Die Botschaft: Wir illustrieren nicht. Doch beinahe jede Szene gerät spätestens mit dem dritten Satz zur impersonation historischer Klischees. Chargen knattern, Offiziersgattinnen räkeln sich röhrend im Negligé rotwangigen Kadetten entgegen. Eindimensionale Bilderbögen und Stadttheaterfakes, die formale Neuerung nur vortäuschen.

Katrin Brack lässt überlebensgroße bunte Bälle mit Luft befüllen. In eine zweite poetische Ebene heben sie die Angelegenheit nicht. Die vorderen Reihen recken erwartungsvoll die Hände: einmal nur den Ball schupfen! Das stumpfe Nebeneinander der Darstellungsmittel lässt diesen „Radetzkymarsch“ kaum der Erinnerung an „Hiob“ annähern. Was bleibt von der Geschichte? Österreich redete sich unablässig in den Untergang und fiel dabei bislang überraschend weich. Joseph Roth konnte davon noch nicht wissen. Er starb 1939 an Alkohol und Exil.

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