Psychiatrieopfer scheitert mit Klage: „Nicht zuständig“

Vera Stein ist in den 70er-Jahren in der Bremer Psychiatrie festgehalten worden. Nun forderte sie eine Entschädigung, aber der Gerichtshof für Menschenrechte wies die Klage ab.

Ein langgezogener renovierter Altbau.

War für Vera Stein wie ein Gefängnis: die Klinik Dr. Heines Foto: wikimedia commons / Jürgen Howaldt

HAMBURG taz | „Ich war wie meine Schwestern ganz normal auf dem Gymnasium, bevor ich das erste Mal eingesperrt wurde“, sagt Vera Stein. Doch ihr Leben verlief nicht normal. Das Telefonieren strengt sie an. Sie muss es kurz machen. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 19. Juli 2018 hat sie noch nicht gelesen. Nur, dass ihre erneute Beschwerde abgelehnt wurde, hat sie schon von ihrem Anwalt erfahren.

Fast 20 Jahre schon kämpft die heute 59-Jährige, die eigentlich anders heißt, gegen das Unrecht, dass ihr Ende der 1970er-Jahre in der Psychiatrie zugefügt wurde. Vom 15. bis zum 22. Lebensjahr war sie in psychiatrischen Krankenhäusern, davon vier Jahre lang geschlossen untergebracht. Ihr wurden Medikamente wie Neuroleptika verabreicht, die sie eigentlich nicht hätte bekommen dürfen. Von der Behandlung trug sie schwere körperliche Schäden davon. Heute ist sie auf den Rollstuhl angewiesen, ihre Gesundheit ruiniert.

Die Ärzte in einer Uniklinik hatten die Verdachtsdiagnose Hebephrenie gestellt, eine Form der Schizophrenie, die in der Pubertät auftritt. Erst als Vera Stein erwachsen ist, holt sie sich Hilfe und unabhängige Gutachter. „Frau Stein hatte nie eine Hebephrenie“, schreibt die Hamburger Kinder- und Jugendpsychiaterin Charlotte Köttgen, die dem Fall auch ein Kapitel in ihrem Buch „Ausgegrenzt und mittendrin“ gewidmet hat.

Er sei ein Lehrbeispiel dafür, wie es nicht laufen sollte. Denn zu jener Zeit habe die Psychiatrie-Enquetekommission des Bundestages längst ihren Bericht vorgelegt und eine Reform eingeleitet. Auch hätten schon Ende der 1960er-Jahre Mediziner vor den schweren Folgen der Neuroleptika gewarnt.

Stein wurde unter Zwang mit Psychopharmaka behandelt und an ihr Bett oder die Heizung gefesselt, wie sie selbst berichtet

Vera Stein hatte nur eine Pubertätskrise, wie viele sie haben, schreibt Köttgen. In den Kliniken, die Stein auf Drängen ihres Vaters aufnahmen, seien altersgemäße emotionale Regungen pathologisiert, sprich zur Krankheit erklärt worden. Sieben Jahre lang sei Stein ohne Gespräche, Familienberatung, schulische Förderung und Arbeitsangebote hospitalisiert worden. Zudem hätten die Ärzte die Folgen einer Kinderlähmung, die Stein als Dreijährige hatte, verkannt.

Bei der deutschen Justiz kam Stein, die gegen mehrere Kliniken klagte, nicht weit. Lediglich ein Prozess gegen eine Uniklinik endete mit einem Vergleich. Doch mit Hilfe zweier Gutachten erreicht Stein im Juni 2005 etwas Besonderes: Genau 30 Jahre nach ihrer ersten Einweisung bekam sie Recht vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugesprochen.

Denn zwischen 1977 und 1979 war die damals 18-Jährige ohne richterlichen Beschluss und gegen ihren Willen in der privaten Klinik Dr. Heines in Bremen festgehalten worden, und zwar in der geschlossenen Abteilung. Sie sei unter Zwang mit Psychopharmaka behandelt und an ihr Bett oder die Heizung gefesselt worden, berichtet sie.

Nicht ermittelt wurde der materielle Schaden

Mehrfach versuchte sie zu fliehen und wurde von der Polizei dorthin zurückgebracht. „In dem Moment, wo sie ausbricht und sogar in Handschellen zurückgeführt wird, bringt sie in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, ich will nicht eingesperrt werden“, sagte Rechtsanwalt Sebastian Schattenfroh schon 2001 in einer Dokumentation der Sendung „Kontraste“.

Der EGMR entschied, dass die Behandlung gegen die Europäische Konvention für Menschenrechte verstoßen habe, konkret gegen Artikel 5, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, und Artikel 8, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Der deutsche Staat sollte ihr 75.000 Euro Schmerzensgeld für den immateriellen Schaden zahlen.

Nicht ermitteln konnten die Straßburger Richter seinerzeit den materiellen Schaden: die Kosten der Heilbehandlung und jenes Geld, das Stein entgangen ist, weil sie nicht wie ihre Schwestern eine berufliche Karriere aufnehmen konnte.

Fehlende Erfolgsaussichten

Deshalb klagte Stein nach 2005 erneut vor deutschen Gerichten. Sie will das Geld von der Klinik, die einen neuen Betreiber hat. Im Oktober 2005 beantragte sie beim Oberlandesgericht Bremen eine Prozesskostenhilfe, um ihr früheres Schadenersatzverfahrens gegen die Klinik wieder aufnehmen zu können.

Doch das Bremer Gericht lehnt den Antrag wegen fehlender Erfolgsaussichten ab. Das deutsche Recht kannte zu dieser Zeit noch keine Wiederaufnahme von Zivilverfahren.

Deshalb wandte sich die Frau, die heute in Hessen lebt und selbst schon vier Bücher zu dem Thema geschrieben hat, erneut an das Straßburger Gericht. Sie fordert eine Pension von 1.700 Euro im Monat für entgangene Verdienste und ein Schmerzensgeld von 425.000 Euro.

Ausgang offen

Doch diesmal ist sie mit der Beschwerde gegen Deutschland gescheitert. Weil diese keine neuen Rechtsfragen aufwerfe, sei sie zum Teil als unzulässig abgewiesen worden, teilte das Gericht am Donnerstag mit. Auch sei nicht das Gericht dafür zuständig, die Umsetzung seiner Urteile in den jeweiligen Ländern zu prüfen, sondern das „Ministerkomitee“ des Europarats.

Diesem Gremien, das ein, zwei Mal im Jahr tagt, liegt ebenfalls schon seit 2014 eine neue Beschwerde Steins vor. Das Komitee habe die Entscheidung des Gerichts abgewartet, heißt es im Straßburger Gericht.

Der endgültige Ausgang von Vera Steins Gerichts-Odyssee ist also noch offen. 2007 hatte sich das Ministerkomitee schon einmal zu der Umsetzung geäußert und die Erwartung kund getan, dass der Frau im vollen Umfang Wiedergutmachung gewährt wird. Das ist noch nicht passiert.

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