Proteste in Ägypten: Der gelenkte Krawall

Vor dem Präsidentenpalast in Kairo schlagen Mursis islamistische Anhänger Oppositionelle. Sie wittern eine Verschwörung des Auslands.

In Kairo eskaliert die Gewalt. Stacheldraht kommt zum Einsatz. Bild: dpa

KAIRO taz | „Wir verteidigen den demokratisch legitimierten Präsidenten“, rufen die Fußsoldaten der Muslimbrüder am Dienstagabend, nachdem sie in den Stunden zuvor die Straßen rund um den Präsidentenpalast in der ägyptischen Hauptstadt gewaltsam von den politischen Gegnern ihrer Partei und Präsident Mohammed Mursis geräumt haben.

Was die Islamisten unter „Verteidigung“ verstehen, machen sie dann bis in die späte Nacht deutlich: Wann immer sie eines ihrer Opponenten habhaft werden, schlagen mehrere Dutzend Männer auf diesen ein – bis er am Boden liegt und sich nicht mehr bewegt.

„Verräter!“ und „Wer hat dich bezahlt?“, ruft die Menge immer wieder. Dann treten die Mursi-Anhänger erneut auf ihr Opfer ein. Einer der Islamisten kommt gelaufen und präsentiert den Geldwechselbeleg einer Bank, den man bei einem der Anti-Mursi-Demonstranten gefunden haben will – als Beweis, dass die Oppositionellen „von außen“, vom Ausland, finanziert werden.

30. Juni 2012: Mohammed Mursi, bis dahin Mitglied der Muslimbrüder, wird Präsident Ägyptens.

22. November: Mursi erklärt seine Entscheidungen für juristisch unanfechtbar und entlässt den Generalstaatsanwalt.

28. November: Im US-Magazin Time nennt Präsident Mursi seine Befugnisse „temporär“.

30. November: Die Verfassungsversammlung beschließt einen stark vom Islam geprägten Verfassungsentwurf, über den das Volk am 15. Dezember per Referendum entscheiden soll. Zehntausende demonstrierten dagegen.

1. Dezember: Hunderttausende Islamisten demonstrieren für Mursi und den Verfassungsentwurf. Ihre Gegner protestieren zeitgleich auf dem Tahrirplatz.

2. Dezember: Das Verfassungsgericht in der Hauptstadt Kairo verschiebt die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der von den Islamisten dominierten Verfassungsversammlung. (b.s., rr)

Auf einem Kleinlaster steht ein Prediger. Aus luftiger Höhe peitscht er die Menge an. „Wir alle lieben Ägypten, Gott ist groß, los, lauft nach vorne und sichert die Straßen ab, lasst sie nicht durch“, ruft er ins Megafon.

„Wir sind 95 Prozent“

„Diese Opposition, das ist eine Verschwörung“, so Naim Risq, einer der Muslimbrüder, vollkommen aufgebracht. Wenn er nicht den Präsidentenpalast verteidigt, arbeitet er als Beamter im Religionsministerium, so der Demonstrant.

„Die anderen Demonstranten sind alle gemietet, das sind Söldner“, brüllt er. Auf die Frage, wie es nun weitergehen soll in dieser polarisierten Lage, gibt er seine Version der Wirklichkeit wieder. „Wir sind kein politisch geteiltes Land. Wir sind 95 Prozent – und die anderen nur 5.“

Viele der islamistischen Demonstranten stammen aus den Armenvierteln oder der Umgebung Kairos. „Man hat mich hierhergeschickt und mir gesagt, ich solle warme Kleidung mitbringen, weil ich hier übernachten werde“, beschrieb einer von ihnen seinen Auftrag. Er sagt, er komme aus dem Nildelta.

Auffällig sind die Herren in Anzügen, die die Menge im Hintergrund dirigieren. Einer, der immer wieder Anweisungen gibt, ist Alaa al-Kilani. Er sei einfach ein Bürger, ein Elektroingenieur, sagt er vage und grinst. Natürlich könne die Opposition ihre Meinung sagen – aber nicht auf diese Art, nicht auf der Straße und schon gar nicht vor dem Präsidentenpalast. Mursi sei – anders als Mubarak – demokratisch gewählt. Das müsse auch von der Opposition anerkannt werden.

Panzer „zum Schutz des Palastes"

„Wer mit der Urne an die Macht gekommen ist, den kann man nur mit der Urne von der Macht entfernen“, argumentiert al-Kilani. Und was den Verfassungsentwurf angeht: Die Opposition hätte ihre Energie lieber darauf verwenden sollen, die Menschen davon zu überzeugen, im anstehenden Referendum mit Nein zu stimmen, statt auf die Straße zu gehen.

Am nächsten Morgen, die Muslimbrüder feiern noch immer ihren Sieg vor dem Palast, verkündete das Gesundheitsministerium die letzten Zahlen: 5 Tote und 697 Verletzte auf beiden Seiten hat die Nacht gefordert. Am Morgen fuhren Panzer der Präsidentengarde „zum Schutz des Palastes“ auf, wie es in einer offiziellen Erklärung hieß. Die Armee selbst blieb weiterhin in den Kasernen.

Für den Nachmittag wurde eine Ausgangssperre rund um den Palast ausgerufen. Die Armee forderte die Demonstranten ultimativ auf, die Gegend zu räumen. Der Murschid, das Oberhaupt der Muslimbrüder, Mohammed Badie, rief die Muslimbrüder auf, nach Hause zu gehen. Binnen Kurzem leerten sich die Straßen vor dem Palast.

Die Opposition hat für den späten Nachmittag neue Märsche angekündigt. Mit der Ausgangssperre rund um den Palast ist der Weg zum ursprünglichen Ziel der Demonstrationen allerdings versperrt. Erwartet wird, dass sich die Opposition wieder auf dem Tahrirplatz versammeln wird.

Zwei Fragen bleiben offen: Warum hat die Präsidentengarde nicht schon in der Nacht Panzer auffahren lassen, um die Straßenkämpfe zu beenden? Und wenn der Murschid seine Anhänger so an- und ausschalten kann: Trägt er dann nicht die volle Verantwortung für die Eskalation?

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