Pro und Kontra Volksentscheide: Was sie alle wollen

Alle Jamaika-Parteien, außer die CDU, sind dafür, Volksabstimmungen auch auf Bundesebene durchzuführen. Was spricht dafür und was dagegen?

Plakat mit Aufruf zum Wählen zu gehen

In der Schweiz haben Volksabstimmungen eine lange Tradition Foto: dpa

Ja

Die Demokratie ist bei manchen (Links-)liberalen in Verruf geraten, seit die Bevölkerung oft nicht mehr wählt, was sie für alternativlos halten. Der belgische Historiker David Van Reybrouck etwa plädiert dafür, Wahlen zu Parlamenten in bestimmten Fällen durch Losverfahren zu ersetzen. Und nach der Brexit-Entscheidung demonstrierten Briten für eine neue Abstimmung, damit ihnen das Ergebnis gefällt.

Gerade Volksabstimmungen werden kritisch betrachtet. Die SPD kippte die Forderung nach bundesweiten Volksentscheiden aus ihrem Programm für die Wahl 2017. Vier Jahre zuvor stand sie noch drin. Auch ob sich die Jamaika-Unterhändler auf bundesweite Volksentscheide einigen, obwohl nur die CDU dagegen ist, ist eher fraglich. Nicht einmal den Grünen scheint das Thema wichtig genug.

Das war in den 80er Jahren noch anders: „Seit Beginn dieser Republik ist die Bevölkerung von allen wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen. Nachrüstung und Atomkraftwerke wurden von den Regierungen gegen den Protest und oft hinter dem Rücken der Bevölkerung durchgesetzt“, hieß es im Grünen-Programm zur Bundestagswahl 1987. „Wie lange noch sollen Politiker (Männer vor allem) die Möglichkeit haben, über die Existenz oder Nicht-Existenz unserer Zivilisation zu entscheiden? Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie braucht eine Ergänzung durch Volksentscheide.“ Die frühen Grünen waren für Volksentscheide, weil sie das Volk, das noch immer mehrheitlich Volksparteien wie die SPD wählte, in Sachfragen auf ihrer Seite sahen.

Heute hat die AfD ein ähnliches Verhältnis zu Volksentscheiden. „Entgegen anderslautender Behauptungen entscheiden Bürger in Schicksalsfragen der Nation weitsichtiger als macht- und interessengeleitete Berufspolitiker“, heißt es im aktuellen Wahlprogramm. „Das deutsche Volk soll deshalb nach dem britischen Vorbild über den Verbleib Deutschlands in der Eurozone abstimmen!“

Das Thema Alle Jamaika-Parteien außer der CDU haben sich dafür ausgesprochen, Volksabstimmungen auch auf Bundesebene einzuführen. Die CSU hat in ihrem „Bayernplan“ sogar garantiert, diesen Punkt zu verankern. Auch die Grünen haben vor der Bundestagswahl erklärt, Volksentscheide in die Verfassung schreiben zu wollen. Das sei für die Partei eines ihrer Schlüsselthemen. Die FDP kündigt in ihrem Grundsatzprogramm an, sich für bundesweite Volksentscheide einzusetzen. Dennoch hat sich ihr Vorsitzender Christian Lindner klar davon distanziert.

Der Termin Bei den Sondierungsgesprächen der vier Parteien könnte das Thema am Donnerstag eine Rolle spielen, wenn es um Innenpolitik geht. Doch sind bundesweite Plebiszite überhaupt eine gute Idee?

Wer Volksentscheide wirklich befürwortet, sollte sie nicht mit Nützlichkeitsargumenten, sondern mit demokratischen Erwägungen begründen. Klar ist dabei: Ebenso wie ein rein repräsentatives System Nachteile hat, haben auch Volksentscheide Nachteile. Etwa die Möglichkeit, dass kapitalkräftige Unternehmen durch Werbung Einfluss nehmen, so wie Ryanair bei der Berliner Abstimmung über den Flughafen Tegel.

Wer eine Partei wählt, wählt ein Gesamtpaket: Wer etwa für die Grünen stimmt, weil er den Familiennachzug von Flüchtlingen will, zugleich aber mehr sozialen Wohnungsbau, muss damit leben, dass die Partei nach den Wahlen das eine wichtig findet und das andere vergisst. Wer 2002 Schröder wählte, gab ihm einen Blankoscheck für die Agenda 2010, die nicht im Wahlprogramm stand. Volksentscheide können solche Entscheidungen korrigieren. Die Wahl einer Partei fällt leichter, wenn der Blankoscheck für vier Jahre kleiner ausfällt – die Repräsentanten können auch mitten in Wahlperioden abgestraft werden.

Das Land Berlin ist dafür ein gutes Beispiel. Hier gibt es eine strukturelle Mehrheit der drei linken Parteien. Sie begünstigt Lethargie, Gleichgültigkeit und Arroganz, vor allem, aber nicht nur, aufseiten der SPD. Erst seit 2006 gibt es die Möglichkeit zu Volksentscheiden auf Berliner Landesebene. Zunächst wurden durch Volksbegehren einige Privatisierungsentscheidungen von Rot-Rot korrigiert. Es war ein klassisches Muster: Linke Volksbegehren trieben eine linke Landesregierung vor sich her. Anders motiviert sind die Erfolge späterer Volksentscheide. 2014 fand sich eine Mehrheit für die Nichtbebauung des Tempelhofer Felds. Die Bürgerinitiative hätte nie eine Mehrheit bekommen, wenn sich nicht auch in Spandau und Hellersdorf viele gefunden hätten, die zur Urne gingen, um dem bräsig gewordenen Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) ihr Misstrauen auszudrücken. Wowereit trat wenige Monate später zurück. Ähnliche Motive liegen der Mehrheit für die Offenhaltung des Flughafens Tegel im September 2017 zugrunde.

Ähnliches wäre auch auf Bundesebene zu erwarten. Die Parteien würden redemokratisiert, vor allem die CDU. Der entpolitisierende Merkel’sche Regierungsstil ließe sich bei möglichen bundesweiten Volksabstimmungen kaum durchhalten. Dass die Bevölkerung dann manchmal anders abstimmt, als sich Linksliberale erhoffen, muss man in Kauf nehmen.

Martin Reeh

Nein

Wer politisch links steht, sollte gegen bundesweite Volksentscheide kämpfen. Obwohl die Grünen und die Linke „direkte Demokratie“ fordern – genauso wie jetzt der BUND und andere Umweltverbände. Die Bilanz von Volksentscheiden etwa in der Schweiz ist zumindest aus linker Sicht miserabel. Plebiszite führen dazu, dass die Armen noch weniger an Entscheidungen beteiligt werden als eh schon in der repräsentativen Demokratie. In der Schweiz nahmen an den bundesweiten Abstimmungen von 1971 bis 2010 im Schnitt nur 42,5 Prozent der Wahlberechtigten teil, wie der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel errechnet hat. Das waren gut 5 Prozentpunkte weniger als bei den Wahlen im selben Zeitraum. Es ist klar, wer eher bei Urnengängen zu Hause bleibt: Arme und weniger gut Gebildete. Obere und mittlere Schichten und Gebildete beteiligen sich überproportional.

Entsprechend unsozial ist das Ergebnis dieser Abstimmungen. In der Schweiz und Kalifornien haben haushaltspolitische Plebiszite regelmäßig dazu geführt, dass der Staat weniger Steuern einnimmt und auch weniger ausgibt. Davon profitieren meist die Reichen, die Armen verlieren. Die Spitzenverdiener schaffen es immer wieder, den Normalverdienern Angst einzuflößen, dass Mindestlöhne, Steuererhöhungen oder die Begrenzung von Managergehältern Arbeitsplätze gefährden würden.

Volksabstimmungen würden die Macht der Lobbys beschneiden, sagen die Befürworter. In Wirklichkeit mischt Big Business auch bei Plebisziten kräftig mit – und siegt ständig. Der US-Saatgutkonzern Monsanto beispielsweise setzte sich nach Millionen Dollar schweren Kampagnen in Referenden in Kalifornien, Oregon und Washington über die Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Pflanzen in Lebensmitteln durch. In Berlin warb der Billigflieger Ryanair Hand in Hand mit der FDP erfolgreich für eine Mehrheit bei der Volksabstimmung zur Offenhaltung des Flughafens Tegels – auf Kosten Hunderttausender lärmgeplagter Anwohner.

Die Niederlagen der mächtigen Lobbys bei Referenden sind die Ausnahme. Volksabstimmungen werden ja auch mitnichten vom Volk insgesamt initiiert, sondern von der meinungsstarken Mittelschicht, von Interessengruppen und Parteien. Klar, Lobbys beeinflussen ebenfalls Abstimmungen im Parlament oder Wahlen. Aber es ist eben eine Illusion, dass Plebiszite dieses Problem lösen.

Referenden können aber auch gefährlich sein. Sie eignen sich hervorragend für Rechtspopulisten, um ihre Themen auf die Agenda zu zwingen – und oft genug, um ihre Ziele durchzusetzen. 2009 siegten Fremdenfeinde in der Schweiz bei der Volksabstimmung „Gegen den Bau von Minaretten“, 2014 beim Referendum „Gegen Masseneinwanderung“. Parlament und Regierung hatten die Initiativen abgelehnt.

Ähnliche Beispiele gibt es aus anderen Ländern, allen voran das Plebiszit über den Brexit. Die erfolgreiche Kampagne zum Austritt Großbritanniens aus der EU war maßgeblich von Fremdenfeindlichkeit getragen – und hat beispielsweise rassistische Gewalt gegen Ausländer gefördert.

In Deutschland sieht sich ausgerechnet die AfD als Vorreiter der direkten Demokratie. Mit monatelangen Kampagnen könnte sie hervorragend Stimmung machen. Denkbar wären zum Beispiel Plebiszite zur „Kürzung der Hilfe für Asylanten“ oder „Abschaffung des Asylrechts“. Letztere könnte dann dem Gesetzentwurf des bei dem Thema führenden Vereins „Mehr Demokratie“ zufolge mit einer Stimme beschlossen werden. Im Parlament ist eine Zweidrittelmehrheit nötig für Entscheidungen, die so weit in Grundrechte eingreifen – auch wenn die Betroffenen in der Minderheit sind.

Plebiszite sind ein Mittel, das den Rechtspopulismus noch befördern könnte. Keinesfalls kann er mit Volksabstimmungen bekämpft werden. Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei ist trotz oder auch gerade wegen zahlreicher Referenden stärkste Kraft im Parlament geworden. Und das Gefühl mancher Menschen, „Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen“, wird durch gelegentliche Volksabstimmungen zu einzelnen Themen kaum verschwinden.

Wahrscheinlich werden Entscheidungen eher akzeptiert, wenn sie in Volksabstimmungen gefällt werden. Aber das ist ein geringer Nutzen im Vergleich zu ihrem sehr hohen Preis.

Jost Maurin

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.