Pro & Contra deutsche Flüchtlingspolitik: Weiß sie, was sie tut?

Erst pocht Merkel auf Solidarität mit Flüchtlingen, dann gibt es plötzlich wieder Grenzkontrollen. Ziemlich verwirrend.

Bundeswehrsoldaten bauen eine Notunterkunft in Hanau.

Was denn nun? Mal sollen Soldaten Notunterkünfte aufbauen, mal die Polizei beim Grenzschutz unterstützen. Foto: dpa

JA!

Der Zickzack war richtig: Erst hat Kanzlerin Merkel die deutschen Grenzen geöffnet – um sie Sonntag vorübergehend wieder zu schließen. Dieses Hin und Her ist ehrlich. Merkel gesteht ein, dass es in der Flüchtlingsfrage keine fertigen Lösungen gibt.

Kritiker wenden ein: Was soll das? Man wusste doch vorher, dass Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen kann. Aber dies unterschätzt die symbolische Macht der Merkel-Aktionen. Der Kanzlerin ist es gelungen, den Diskurs in Deutschland und Europa zu verschieben.

Dieser symbolische Wandel findet dreifach statt. Erstens: Indem Merkel die Grenzen öffnete, hat Deutschland anerkannt, dass sich eine humanitäre Katastrophe abspielt, die beispiellose Maßnahmen verlangt. Bis dahin hatte man an der Fiktion festgehalten, die verzweifelten Syrer ließen sich zurückdrängen.

Zweitens: Bevor Merkel die Grenzen öffnete, wurde jeder einzelne Flüchtling als Bürde definiert. Als pro Tag 12.000 Flüchtlinge in München eintrafen, verschoben sich die Maßstäbe. Sosehr die Bayern klagen: Die eigentliche Nachricht ist, dass die deutsche Gesellschaft große Flüchtlingsströme bewältigt, wenn von der Bahn bis zur Bundesregierung alle zusammenarbeiten.

Drittens: Als größtes Land musste Deutschland vorangehen, wenn es zu einem Wandel in der europäischen Flüchtlingspolitik kommen sollte.

Trotzdem ist es richtig, die Grenzen vorübergehend wieder zu schließen. Deutschland kann zwar viel mehr Flüchtlinge aufnehmen, als Konservative meinen. Aber das Land wäre überfordert, wenn die Grenzen unkontrolliert offen blieben.

Dennoch bleiben die zwei Wochen Grenzfreiheit nicht folgenlos. So hatten viele Bundesbürger bisher kein Verständnis, dass man Milliarden an die UNO überweisen müsste, damit sie die Flüchtlinge vor Ort im Nahen Osten unterstützt. Doch jetzt ist vielen klar, dass die Flüchtlinge zu uns kommen, wenn wir ihnen nicht vor Ort helfen. (Ulrike Herrmann)

NEIN!

Angela Merkel gilt hierzulande als gute Taktikerin. Aber das ist nur möglich, weil die Deutschen den außenpolitischen Schaden, den sie anrichtet, nicht wahrnehmen. Das betrifft die Ukraine-Frage ebenso wie die Eurokrise, die erst EZB-Chef Mario Draghi gegen den deutschen Starrsinn beendete. Merkel sieht Krisen nicht kommen, und wenn sie kommen, entscheidet sie falsch.

Das ist in der Flüchtlingskrise nicht anders. Die UN klagt seit Langem über die Unterfinanzierung der Flüchtlingslager für Syrer im Nahen Osten. Gehandelt hat Merkel aber erst, als die Flüchtlinge vor der deutschen Haustür standen: auf dem Bahnhof in Budapest. Und dann unilateral beschlossen, alle aufzunehmen.

So menschlich richtig die Entscheidung ist, war sie politisch fatal, weil sie nicht hinreichend als Ausnahme kommuniziert wurde. Noch am Freitag bekannte die Kanzlerin, das Asylrecht kenne keine Obergrenzen bei der Aufnahme.

Den Syrern kann man keinen Vorwurf machen, dass sie dies als Signal verstehen, nach Deutschland zu kommen. Vielleicht kann Deutschland 500.000 von ihnen im Jahr aufnehmen, vielleicht mehr. Aber es ist keine Lösung, sämtliche syrischen Flüchtlinge aus der Türkei, Jordanien und dem Libanon nach Deutschland zu verlagern.

Wer das versucht, destabilisiert die sozialen Sicherungssysteme. Und er tut den Flüchtlingen keinen Gefallen, weil es unmöglich ist, genügend Jobs für sie zu schaffen. Wie immer debattiert Merkel aber nicht, sondern setzt auf Beschwichtigungsparolen: „Wir schaffen das.“

Ihre Entscheidungen in der Flüchtlingsfrage sind Merkels erster großer innenpolitischer Fehler. Wie seinerzeit Draghi in der Eurofrage hat nun Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) mit der Aussetzung von Schengen sie vorerst davor bewahrt, an der Krise zu scheitern. Aber es muss beunruhigen, dass die Kanzlerin in schweren Krisen auf Idealismus statt Realpolitik setzt. (Martin Reeh)

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

Von 2018 bis 2020 taz-Parlamentskorrespondent. Zuvor von 2013 bis 2018 Leiter der taz-Inlandsredaktion, von 2012 bis 2013 Redakteur im Meinungsressort. Studierte Politikwissenschaft in Berlin, danach Arbeit als freier Journalist für Zeitungen, Fachzeitschriften und Runkfunkanstalten, Pressesprecher eines Unternehmensverbands der Solarindustrie und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik.

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