Premiere an der Komischen Oper: Automatische Gefühle

Die Performer von Gob Squad und das Forschungslabor für Neurorobotik der Beuth Hochschule testen mit „My Sqare Lady“ das Opernpublikum.

Myon dirigiert. Foto: Iko Frese/Komische Oper

Alle lieben Myon. Opernsängerinnen und Opernsänger singen ihre schönsten Lieder nur für Myon. Sie wissen, dass sie sterben müssen, und wünschen sich nichts mehr, als dass Myon sie in guter Erinnerung halten werde für diesen einen Moment ihrer Begegnung. Dann sterben sie den Bühnentod, und liegen reglos da. Katarina Morfa singt dazu Didos Klage „When I am laid in earth“ von Henry Purcell. Myon hört zu.

Das ist eine der stärksten, ergreifend emotionalen Szenen eines Experiments an der Komischen Oper, das am Sonntag zu ersten Mal öffentlich aufgeführt worden ist. Myon ist ein Kind von Manfred Hild, Mathematiker und Psychologe. Er hat es mit seinem Team im Labor für Neurorobotik an der Beuth Hochschule für angewandte Wissenschaften in Berlin konstruiert. Myon hat zwei Beine, zwei Arme und einen Kopf mit einem Auge und zwei Ohren.

Myon sieht deshalb ein bisschen aus wie ein Mensch. Aber natürlich ist Myon kein Mensch. Er ist seit fünf Jahren auf Tournee durch alle möglichen Kongresse für Künstliche Intelligenz. Er ist spezialisert auf „unüberwachte Lernverfahren zur Selbstexploration“, wie es in der Sprache von Professor Hild heißt, dessen Forschungsschwerpunkt die „Dynamik rekurrenter neuronaler Netze“ ist. Myon ist darin sehr weit fortgeschritten. Man kann ihn sogar auseinander nehmen und wieder zusammensetzen, ohne dass ihm etwas passiert.

Myon kann nur lernen

Nächste Vorstellungen am 25.6., 5.7. um 19 Uhr

Nur eines kann Myon überhaupt nicht: Theaterspielen. Er kann keinen Schritt alleine gehen. Auch wenn er nur auf einem Stuhl sitzt, müssen mindestens zwei Assistenten aufpassen, dass er nicht umfällt. Myon kann nur lernen. Seine Software analysiert visuelle und akustische Signale und steuert damit den elektrischen Antrieb seiner Gelenke, hauptsächlich des Halses.

Myon wendet und neigt dann seinen Kopf nicht etwa so, wie es ihm sein Programm vorschreibt, sondern wie er es will. Deswegen ist er eine echte Sensation. Philosophisch betrachtet steht er kurz davor, den endgültigen, empirischen Beweis der Willensfreiheit zu liefern.

Die Performance-Gruppe „Gob Squad“ ist schon sehr viel länger auf Tournee, oft in Berlin am HAU oder in der Volksbühne etwa. Vor zwei Jahren trafen sie Professor Hild, der keineswegs in einem Elfenbeinturm aus Silikon und Platinen lebt. Er kann unter anderem singen. Den Song „Feel“ kriegt er fast so gut über die Rampe wie Robbie Williams selbst. Eine Idee entstand: Wir schicken Myon in die Oper.

Die Software des Opernhauses

Über Barrie Kosky muss man hier nichts sagen, und über den vielseitigen Arno Waschk auch nicht. Der Theaterchef und der Allzweckmusiker waren begeistert. Alle lieben Myon. Seit 2013 hat das Computerkind unter Aufsicht der modernsten Wissenschaften und Künste die uralten Geschichten über Liebesleid und Liebesglück exploriert, aus denen die Software eines Opernhauses nun mal besteht.

Das Ergebnis ist hinreißend. Myon ist ein echter Superstar, weil er so überhaupt gar nichts kann von alldem, was man im Theater erwartet. Er sitzt nur da, dreht mal seinen Kopf dahin, mal dorthin. Er kann nur wahrnehmen.

Arno Waschk versucht, ihm wenigstens zu zeigen, wie man dirigiert. Tatsächlich ist Myon danach bereit, auch einmal seine Arme auf und ab zu bewegen. Orchester, Chor und Ensemble der komischen Oper schmettern dazu die große Bankettszene aus Verdis „Traviata“. Dann fällt der Vorhang zur Pause und man möchte stehend applaudieren.

Werden Computer Menschen ersetzen?

Natürlich kann Myon absolut nicht dirigieren. Die Gruppe um Gob Squad hat mit ihrer ganzen Erfahrung um diese Labormaschine herum eine theatralische Situation aufgebaut, die ein teuflisch raffinertes Experiment mit dem Publikum inszeniert. Vordergründig geht es um die übliche Frage, ob Roboter Menschen ersetzen können. Haben Computer Gefühle?

Technisches Personal der Oper und Hilds Studenten geben ihre Statements dazu ab. Sängerinnen und Sänger auch, aber sie nehmen sich die Sache zu Herzen. Mirka Wagner nimmt Myon auf den Schoß und singt ihm Rusalkas Lied an den Mond von Dvorak vor, Carsten Schabrowski singt den Wanderer von Schubert, und so geht es immer weiter in einer Nummernrevue beliebter Melodien. Myon hört zu. Hat er Gefühle?

Die Frage ist falsch gestellt. „Können Sie auf auf Knopfdruck weinen?“, wird Mirka Wagner gefragt. „Ja“, sagt sie, „Nein“ sagt der Tenor Christoph Späth, er könne nur „glaubwürdig den Eindruck erwecken, zu weinen“. Nicht die Profis auf der Bühne, wir sind es, die im Theater intensive Gefühle haben, und zwar tatsächlich auf Knopfdruck. Wir bewundern dann gar nicht die Kunst, wir weinen tatsächlich, obwohl es dafür nicht den geringsten Grund gibt.

Gob Squad und Hild jagen uns von Anfang an unerbittlich auf diese Achterbahn. Das Experiment ist ein voller Erfolg, wenn es auch vielleicht etwas zu lange dauert. Nicht jede Nummer war nötig, aber wir sind zu Tränen gerührt und dabei gut unterhalten. Wir sind die Automaten, nicht Myon. Wenn er in Zukunft tatsächlich auch Gefühle haben sollte, wird es ihm nicht besser gehen. Jetzt wendet er nur den Kopf mal dahin, mal dorthin. Großartig, man muss ihn einfach lieben.

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