Praxis ohne Theorie beim G20-Protest: Willkommen in der Hölle

Ein Jahr nach dem Hamburger G20-Gipfel wird klar, dass linke Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen desavouiert ist. Die affirmativen Kräfte haben Oberwasser.

Ein Demonstrant hält am Hamburger Neuen Pferdemarkt Eine Fahne mit der Aufschrift "Love music, hate fascism" hoch.

Wenig Lust und Liebe zum eigenen Leben: Demonstranten am Pferdemarkt Foto: Miguel Ferraz

Hamburg in Schutt und Asche, eine Verwüstung sondergleichen, Chaos, verheerende Gewalt (der Polizei, der Demonstranten) – das ist ein Jahr nach dem Gipfeltreffen der G20 und den Protesten dagegen noch immer das medial hängengebliebene Bild: Hamburg – das soll in diesen Julitagen 2017 eine „Geisterstadt“ gewesen sein, wie eine druckfrische Publikation in der Flugschriften-Reihe des Nautilus-Verlags reißerisch titelt.

Es ist ein trügerisches Bild, das aus zu Historiengemälden vergrößerten Momentaufnahmen besteht: Hier der Pferdemarkt, hier ein paar zehn Meter Schulterblatt, dort die Elbchaussee oder die Große Bergstraße.

Und freilich die Aufnahmen von der Polizeischlacht gegen eingekesselte Demonstranten bei der „Welcome to Hell“-Demo, die allerdings weniger eine politische Auseinandersetzung dokumentieren als eine Beinahe-Tragödie, die schon Sanitäter vor Ort gegenüber der Polizei mit der Love-Parade-Katastrophe in Duisburg 2010 verglichen (die Einsatzleitung soll übrigens abgewunken haben: in Hamburg seien immerhin ausnahmslos Straftäter am Werk, was die Inkaufnahme eines möglichen Unglücks rechtfertige).

Es ist darüber hinaus ein Bild, das erstaunlich schnell archiviert wurde, zunächst ersetzt durch die fröhlich-braven Putzkolonnen, die die „Geisterstadt“ vom Dreck der Krawalle befreiten, um dann schnell ganz aus dem medialen Spektakel-Kaleidoskop zu verschwinden.

Wenn dieses Bild nun wieder auftaucht, mit all seinen Facetten, ein Jahr nach dem Gipfel, dann kaum als Nachbild einer Konstellation, die man sich als revolutionäre Situation erhoffte und die dann doch nicht mehr war als ein brutales und überdies ziemlich fantasieloses, unüberlegtes Scharmützel.

Straßenschlacht wird zu bizarrem Vexierbild

Jedenfalls: Das, was in der G20-Woche vor einem Jahr passierte, als „Riot“ zu etikettieren – so Titel, Thema und These eines G20-Bandes aus Karl-Heinz Dellwos Laika-Verlag -, ist nichts weiter als idealistische Einrede, nach der vor allem die paar Stunden Straßenschlacht im Schulterblatt zu einem bizarren Vexierbild gerinnen, das die Geschehnisse absurd zwischen dem Imaginären und Realen changieren lässt.

Es häufen sich lobhudelnde Glaubensbekenntnisse an den Status quo, die davon handeln, wie schön die Welt ist, wie toll der Kapitalismus, wie prima es ist, dass heute nur noch alle zehn (statt zwei) Sekunden ein Kind an Unterernährung stirbt

Kein Bild kursiert jedoch, das es ermöglichen könnte, aus dem Protest eine Wirklichkeit zu konstruieren, im Sinne einer wirklichen Bewegung, als die Marx und Engels den Kommunismus bestimmen; eine Wirklichkeit mithin, die selbstgemachte und selbstbestimmte Geschichte wäre, was das Scheitern, das Versagen, den politisch desolaten, aber lebendigen Widerspruch mit einschließt. Diese Geschichte wäre eine der emanzipatorischen Praxis, eine der Selbstbefreiung des Menschen – und sie überhaupt erst zu konstruieren, wäre die Aufgabe.

Zugegeben: das ist erst einmal kaum eine handgreiflichere Parole als die, die schwärmerisch den „Riot“ postuliert. Gleichwohl: Es gibt einen Unterschied ums Ganze, und der ist das Ganze selbst, das Anlass für die Proteste war, was völlig aus dem Blick gerät, wenn eben die Proteste, einschließlich dann auch der Großdemonstrationen, auf eine Revolte runtergebrochen, also auf das aktionistische Ereignis verkürzt werden – wobei sich ein „Riot“ darauf nicht reduziert, was sich luzide in der – eigentlich rechtzeitig im letzten Jahr bei Bahoe Books wieder aufgelegten – „Theorie des Aufstands“ von Emilio Lussu aus dem Jahr 1937 nachlesen lässt.

Die Beschränkung ist eine symbolische Beschränkung, die zur faktischen Selbstbeschränkung wird; sie resultiert aus Ohnmacht, sofern sie der fatalen Logik des Sachzwangs oblag: Der Widerstand gegen den G20-Gipfel, den man als symbolischen Ausdruck des globalkapitalistischen Terrors symbolisch verhindern wollte (und den man, wenn überhaupt, das war taktisch-strategisch klar, auch nur symbolisch verhindern konnte), wurde allein durch die massive Präsenz der Polizei zu einem Widerstand herabgezwungen, der sich nunmehr allein mit dieser Präsenz der Staatsgewalt, ihrer Brutalität und Unverhältnismäßigkeit auseinandersetzen musste.

Anders gesagt: Die Kritik der globalen Gewaltverhältnisse wurde durch die Kritik der lokalen Gewaltverhältnisse verdeckt. Die politische Aktion wurde zur Verzweiflungstat; es gab einige Schwerverletzte, Anwohnerinnen und Anwohner in der Gefahrenzone waren über Tage wie paralysiert, hatten Angstzustände, Leute wurden in den Protestcamps drangsaliert – die permanente Aggression, die ja unüberhörbar mit dröhnend kreisenden Aufklärungshubschraubern in der Luft lag, verbreitete schnell Frustration als Grundstimmung; dass Frustration mit Wut kompensiert wird, ist eine psychologische Binsenweisheit, die kaum für politische Strategieerwägungen taugt.

Der Ausnahmezustand blieb partiell

Auch wenn mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizeitrupps selbst noch an den U- und S-Bahnhöfen der Hamburger Randbezirke patrouillierten, blieb der Ausnahmezustand partiell, selbst innerhalb des Gefahrengebietes. Die Störungen im Betriebsablauf des durchschnittlichen Alltagstrotts waren kaum größer als zum Beispiel beim Hanse-Marathon oder den Harley Days.

Das heißt: Für die meisten Menschen in Hamburg war die Gipfelwoche wie jede andere, nur, dass das Angebot, sich aufzuregen, größer war – Trump, Merkel, Verkehrsstau, Verspätungen, zerdepperte Autos, brennende Autos, zu viel Polizei, zu wenig Polizei, Demonstranten, Leute, die nur Krawall machen wollen, Leute, die nicht von hier sind, die da oben, die anderen etc..

Geplant waren die Aktionen gegen den G20 als Aktionen gegen die fortschreitende Entmenschlichung der Erde in der Regie des Kapitals; geblieben ist bestenfalls eine Erinnerung daran, dass die Aktionen ja auch Aktionen gegen den G20 waren. Der Protest wurde zum Selbstzweck. Gekappt wurde damit jedwede emanzipatorische Perspektive, sei’s die der Weltveränderung, sei’s die der Selbstveränderung.

Das ernste Anliegen, dass mindestens der Kapitalismus abgeschafft werden muss, damit die Menschheit auf diesem Planeten wenigstens weiterleben und damit überhaupt dieser Planet weiter existieren kann, wurde als abseitige Ansicht von realitätsfremden Spinnern abgekanzelt und verhöhnt.

Seit den G20-Protesten, wenn auch vielleicht mit denen nur mittelbar im Zusammenhang stehend, und sicherlich im Sog des ohnehin attraktiver werdenden Rechtskonservatismus und pa­triarchalen Autoritarismus, mit dem längst jeder Sozialdemokrat gepflegt irgendwie kokettiert, häufen sich lobhudelnde Glaubensbekenntnisse an den Status quo, die davon handeln, wie schön die Welt ist, wie toll der Kapitalismus, wie prima es ist, dass heute nur noch alle zehn (statt zwei) Sekunden ein Kind an Unterernährung stirbt, und wie schlimm die Utopie ist, vor allem die einer freien Gesellschaft. Dieselben Medien, mitunter auch dieselben Autorinnen und Autoren feiern aber auch den 200. Geburtstag von Marx, loben jedes Buch von Hardt und Negri, sind über Kritik am Kapital bestens informiert.

Der Protest wurde zum Selbstzweck

Indes kann man rückblickend auf die G20-Woche sagen: Der Protest wurde letztlich auch dadurch zum Selbstzweck, dass die Medien, das Feuilleton und der Kulturbetrieb, die im Vorfeld des G20 – wie danach auch wieder – noch großkotzig mit radikalen Theorien hantierten, plötzlich jeden praktischen Umsetzungsversuch solcher radikalen Theorien bloß distanziert als Event darstellten, erst mit Sympathien („Welcome to Hell“-Demo), dann ohne (der Freitag der Schanzen-Krawalle).

Das zeigt allerdings, wie sehr heute „linke“ Positionen, die angesichts der desolaten Weltlage allein aus Gründen des Überlebenswillens selbstverständlich sein sollten, schlechterdings ignoriert werden. Als Theorien sind sie nur Spielmarken, und als Praxis werden sie zum bloßen Spektakel.

Mithin ist – zumal im Rückblick auf die G20-Woche – fraglich, ob die Linke selbst noch durch „linke“ Positionen bestimmt ist, ob sie ihrem – sicherlich und hoffentlich vielfältigen – Selbstverständnis nach, deshalb „links“ ist, weil sie einvernehmlich und reflektiert am Projekt der Emanzipation theoretisch und praktisch festhält, oder ob die Linke links ist, weil sie’s halt ist.

Auffällig in der G20-Protestwoche war jedenfalls, wie wenig die Interventionistische Linke intervenierte, wie wenig das Ums-Ganze-Bündnis es vermochte, den Protest als Protest „ums Ganze“ zu organisieren, auch wie wenig konkrete Utopie gegen die herrschende Weltordnung verteidigt wurde, und wie wenig schließlich Lust und Liebe zum eigenen Leben in den Protest eingebracht wurden – dabei wäre genau das die Praxis, die sich in einer emanzipatorischen, wirklichen Bewegung kollektiv verfestigen müsste.

Ein Jahr nach dem Gipfel der G20 sieht die Welt kaum anders aus, wenn sich auch in Nuancen die Machtlager zu verschieben scheinen: Die USA verhandeln mit Nordkorea über etwas, was nur zynisch Frieden genannt werden kann, während die Nachrichten titeln, dass die USA und China auf einen Handelskrieg zusteuern, mit der EU zwischen den Fronten. Im Mittelmeer ertrinken weiterhin Menschen. Olaf Scholz, der als Bürgermeister ein G20-Spektakel zu verantworten hatte, das letztendlich auch finanziell ein Desaster war, ist mittlerweile Finanzminister und Vizekanzler im Kabinett der Merkel-Regierung.

Und die hat gerade beschlossen, in Deutschland wieder Internierungslager einzurichten. Willkommen in der Hölle.

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