Popstar Poisel über seine Sinnkrise: „Da muss ich drüber nachdenken“

Authentische Gefühle und radikale Ehrlichkeit – darauf gründet Philipp Poisels Erfolg als Sänger. Er zweifelt stets, besonders an sich selbst.

Der Musiker Philipp Poisel steht auf der Bühne und spielt Gitarre. Sein Blick geht leicht nach rechts in die Ferne. Er guckt nachdenklich. Poisel hat orangefarbene Haare. Sein Pony fällt ihm weit in die Stirn. Er trägt ein hellrotes T-Shirt

Jung und mild: Singer-Songwriter Philipp Poisel. Mit seinem neuen Album „Mein Amerika“ schaffte er es direkt auf Platz 1 der Charts Foto: dpa

taz.am wochenende: Herr Poisel, wann werden Sie endlich erwachsen?

Philipp Poisel: Ich? Keine Ahnung. Ich glaube, manchmal bin ich erwachsener, manchmal bin ich weniger erwachsen. Ich frage mich manchmal, ob es so etwas wie eine Schwelle zum Erwachsenwerden gibt – bei mir oder auch bei anderen um mich her­um. Bei den Naturvölkern gibt es eine Prüfung, ein Ritual,und dann ist man erwachsen. Darauf kann man sich vorbereiten. Aber ich weiß das nicht. Wann ist man erwachsen?

Das scheint ein Problem zu sein, das nicht nur Sie haben, sondern Ihre Generation.

Ich würde das nicht unbedingt als Problem beschreiben. (Pause) Man hat eben den Luxus, dass man sich ein wenig länger Zeit lassen kann. Aber stimmt schon: Der Punkt, dass man auf sich allein gestellt ist, der kommt später. Oder vielleicht auch nie. Man kann es sich bei uns leisten, nicht erwachsen zu werden. Man muss nicht erwachsen werden.

Erkläre mir das Leben, ich weiß nicht, wie es geht“, singen Sie auf Ihrem neuen Album, das auch sonst von einer großen Verlorenheit erzählt. Warum tun Sie sich so schwer, Ihren Platz zu finden?

(Denkt nach) Ich kann mir vorstellen, dass ich nie an den Punkt kommen werde, an dem ich sage: Hier bleibe ich jetzt. Das bleibt alles so. Es kommen immer wieder neue Punkte auf der Lebensreise, da fühle ich mich angekommen – und dann wieder habe ich das Gefühl, ich werde nie erwachsen. Diese Schwankungen habe ich manchmal innerhalb eines Tages. Klar, als Kind habe ich mir diese Frage gar nicht gestellt. Und vielleicht komme ich ja mal an den Ort, wo ich diese Geborgenheit wiederfinde. Aber momentan hänge ich gerade schon irgendwie in der Luft …

Wie fühlt sich das an?

(Lange Pause) Wie gesagt: Ich glaube nicht, dass es für mich einen Zustand gibt, in dem ich verharre. Ich versuche eher, eine Balance zu finden, wenn ich das Gefühl habe, ich bin zu sehr auf eine Seite gekippt. Wenn ich zu vernünftig bin. Oder wenn ich umgekehrt zu viel Geld ausgegeben habe. Ich habe aber natürlich auch den Vorteil, dass ich keine Familie habe, da kann der Ernst des Lebens noch etwas warten.

Der Mann: Philipp Poisel wurde 1983 in Ludwigsburg geboren und lebt in Stuttgart. Schwaben verlässt er nur, wenn er auf Tournee geht.

Der Musiker: Posterboy der „Jungen Milden“ (vgl. Tim Bendzko, Andreas Bourani).

Das neue Album: Sechs Jahre hat sich Poisel Zeit für sein drittes Werk gelassen: „Mein Amerika“.

Sie sind also kein gemachter Mann?

Nein, bin ich nicht. (Lacht) Diese Existenzangst spielt natürlich auch eine Rolle. Wenn man die zu kanalisieren weiß, dann kann man daraus eine Energie gewinnen. Das gelingt mir manchmal, manchmal nicht. Und ich kann sehr verzweifelt und blockiert sein. In solchen ungeschützten Momenten stelle ich mir schon Fragen wie in „Erkläre mir das Leben“.

Diese Zweifel tauchen immer wieder in Ihren Liedern auf, Sie scheinen davon beherrscht. Beherrschen diese Zweifel auch Ihren Alltag?

Das kann ich gar nicht sagen. Mir fällt es total schwer, was zu sagen, wenn mich jemand fragt: Wie war dein Tag? Ich weiß das einfach oft gar nicht. Vieles, was ich da im Alltag eigentlich gedacht oder gefühlt habe, wird mir oft erst klar durch das Musikmachen.

Sie haben mal erzählt, manchmal waschen Sie Wäsche, und plötzlich ist der Tag vorbei.

Ja, es gelingt mir schon auch an manchen Tagen, ganz bewusst zu entspannen. Aber diese unbewussten Phasen, in denen man so in den Tag reinlebt, die kommen immer wieder vor.

„Jetzt ist die Musik quasi das geworden, was der Matheunterricht früher war – etwas, womit ich mich beschäftigen muss“

Leiden Sie darunter?

(Denkt nach) Nein, eigentlich nicht. (Denkt noch länger nach) Das ist ja kein Zustand, in dem ich denke: Ich weiß nicht, was ich machen soll. Nein, ich leide nicht. Ich lasse mir halt nur wahnsinnig viel Zeit. Ich kann Zeiträume schon krass ausdehnen. Ich habe bislang immer jemanden gebraucht, der mir gesagt hat: Okay, es ist schön, auf dem Sofa zu sitzen, und du hast ja auch gute Ideen, aber jetzt musst du mal was draus ­machen.

Der eigene Antrieb fehlte?

Ja, so kann man das vielleicht sagen. (Pause) Aber da bin ich jetzt an einen Punkt gekommen, dass ich das nicht mehr will, so geht das nicht mehr weiter. (Lange Pause) Früher war es eher so: Schön, dass es läuft, und schauen wir mal, ob’s weiterläuft. Dass aber meine Existenz darauf gründet, dass ich Platten mache und dass die auch mal fertig werden, das ist mir erst während der Arbeit an dieser Platte klar geworden, glaube ich. Früher hätte ich gesagt, wenn die Zweifel wieder zu stark wurden, dann fange ich halt noch mal von vorne an.

Es gab also Zweifel an diesem Album?

Ja. (Pause) Ganz massiv. Und die gibt es immer noch. Das ist für mich ganz normal. Nicht normal finde ich, was ich letztens von Lady Gaga gehört habe. Die geht wohl aus dem Studio, legt im Auto den Song auf, den sie gerade aufgenommen hat, und genießt es dann, ihr neuestes Werk zu hören. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mal nach einer Platte nicht unzufrieden gewesen wäre. Ich sage es mal so: Es kommt ja vielleicht auch noch was danach …

Nach der Musik?

Ja.

Es läuft und läuft und läuft. Seit 200 Jahren. Warum wir das Fahrrad lieben und warum es mehr Platz braucht, das lesen Sie in der taz.am Wochenende vom 4./5. März. Außerdem: Der Abgasskandal bei Volkswagen könnte kaum größer sein - das Aufklärungsbedürfnis der Politik schon. Und: Die Geschichte eines Mannes, der sein halbes Leben im Wald hauste und die andere Hälfte im Gefängnis war. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Und was?

Weiß ich nicht. Es geht schon irgendwie weiter.

Haben Sie einen Plan B?

Ich habe schon eine intensive Beziehung zu meiner Gitarre. Die hab ich eigentlich immer in die Hand genommen … (Denkt nach) Obwohl … Nein, es gab auch Phasen, da hat sie mich nicht interessiert. Aber einen Plan B? Ich weiß nicht. Es hätten viele Sachen sein können, die ich hätte machen können statt der Musik … (Lange Pause) Es gibt viele Sachen, die ich gerne mache. Ich male mit Aquarellfarben, ich experimentiere aber auch mit Sounds zu Hause. All das gibt mir dann die Kraft, mit meiner Musik weiterzumachen. Ich will vor allem nicht das Gefühl haben, ich maloche und gehe dann irgendwann in Rente. Es muss nicht die Musik sein, aber egal, was es ist, es wäre schön, wenn ich etwas finden könnte, das mir immer gut gefällt.

Ist das nicht ein wahnsinniges Martyrium, nie zufrieden zu sein mit der eigenen Arbeit?

Früher habe ich Musik gemacht, um mich nicht mit anderen Dingen beschäftigen zu müssen. Das ist jetzt anders. Jetzt ist die Musik quasi das geworden, was der Matheunterricht früher war – etwas, womit ich mich beschäftigen muss, obwohl ich keinen Bock drauf habe.

Das klingt wie eine grundsätzliche Krise. Wollen Sie ganz aufhören mit der Musik?

Das braucht jetzt zumindest Zeit, bis ich wieder meine Musik machen kann.

Woran verzweifeln Sie?

(Lange Pause) Vielleicht fehlt mir das Vertrauen. Das Vertrauen zu meinem Produzenten, das Vertrauen zu meinen Liedern …

Das Vertrauen zu sich selbst?

(Pause) Vielleicht. (Längere Pause)

Was stört Sie denn konkret an dem neuen Album?

Es ist nur eine Vermutung … (Pause) Vielleicht ändert sich das auch wieder … (Noch längere Pause) Vielleicht ist es wie nach einem Marathon, wenn man den zwar geschafft hat, aber einen Krampf hat und erst einmal gar nichts mehr wahrnimmt. Vielleicht ist der Punkt einfach noch nicht da, wo ich loslassen und sehen kann, was ich da geschafft habe. Es ist schwierig, da eine Antwort zu finden …

Wenn man Ihnen so zuhört oder auch liest, was Sie so in anderen Interviews schon gesagt haben: wie schwer es war, die eigene Stimme zu akzeptieren, wie tief Ihre Selbstzweifel sind, wie Sie unter dem Druck leiden, den Fans und das Popgeschäft auf Sie ausüben, dass Sie am liebsten alles hinschmeißen würden. Da fragt man sich: Warum tun Sie sich das eigentlich an?

Ähm … (Muss lachen) Ja … (Pause) Vielleicht verbinde ich ja ein Stück weit den Wunsch … (Lange Pause) Da muss ich noch mal nachdenken über die Frage. (Sehr lange Pause) Ich verbinde damit auch schöne Momente, die es in der Vergangenheit gegeben hat.

Welche Momente?

Auf der Bühne zu stehen, weil ich mir da sicher sein kann, dass die alle gekommen sind, um meine Lieder zu hören. Oder mit der Band unterwegs zu sein, eine Gemeinschaft zu haben, so ein Klassenfahrtsgefühl. Das sind Momente, die sind wie Urlaub, als wäre man auf einer Insel. Das sind Sachen, die mir oft gar nicht bewusst sind. Dass dieser Druck entstanden ist, das hat natürlich auch damit zu tun, dass ich mich in der Vergangenheit zu wenig um meine Angelegenheiten gekümmert habe. Deswegen versuche ich ja jetzt da mehr in die Hand zu nehmen. Aber ich habe es schon sehr genossen, mir diese Freiheiten zu nehmen, mich nicht kümmern zu müssen.

Diese ständigen Zweifel, die dauernde Unsicherheit, die Sie so authentisch vorführen wie kein anderer Musiker hierzulande, ist das auch das zentrale Element Ihres Erfolgs? Ist es das, was die Menschen an Ihnen faszinierend finden?

Ähem … Wer sich jetzt genau mit was identifizieren kann … Dieses Jammern oder dieses Wehklagen, oder wie immer man das nennen kann, dass man sich mit so etwas identifizieren kann, das kann ich mir schon vorstellen. Mir geht’s doch auch so: Es gibt Leute, da denke ich mir, das wäre cool, so wie der zu sein. Und dann gibt es Leute, die haben etwas, was man von sich selbst kennt, und dann rückt das gleich viel näher, wird realer und relevanter. Da steigt das Identifikationspotenzial.

Bei wem geht Ihnen das so?

Ich bewundere zum Beispiel Helmut Schmidt total.

Helmut Schmidt scheint mir jetzt nicht so der an sich zweifelnde Typ gewesen zu sein.

Wer weiß schon, wie der wirklich war. Aber der hatte auch seine schwachen Momente. Ich finde den faszinierend.

Und welche Musiker bewundern Sie?

Ich bewundere Leute, die sich immer weiter entwickelt haben. Leute wie Johnny Cash oder Leo­nard Cohen, die nicht stehen geblieben sind, die nie aufgehört haben.

„Ich habe bislang immer jemanden gebraucht, der mir gesagt hat: Du hast ja auch gute Ideen, aber jetzt musst du mal was draus machen“

Trotz all des Drucks, wie Sie ihn empfinden, trotz der zermürbenden Zweifel, scheint Ihr Leben aber auch sehr entspannt, fast langsam zu verlaufen, nahezu entschleunigt. Ist das womöglich so etwas wie Ihre Botschaft: Macht euch nicht verrückt?

Ich würde mich freuen, wenn es so wäre, wenn ich so wahrgenommen würde. Wenn die Musik eine andere Seite aufzeigen könnte, wenn sie das Leben spiegeln würde, das wäre schön. Dann hätte ich auch das Gefühl, als Künstler wahrgenommen zu werden.

Dieses Gefühl haben Sie bislang nicht?

Auch da habe ich Zweifel. Auf der einen Seite versuche ich nur das zu machen, was mir selbst gefällt. Auf der anderen Seite gibt es die Angst, an allen vorbei zu produzieren. Wenn man gar nichts mehr auf Facebook macht, kein Instagram, kein Interview, dann funktioniert das nicht. Am liebsten wäre mir, ich könnte mich in meine Höhle zurückziehen und nur ab und zu wieder an der Oberfläche auftauchen.

Ihr neues Album heißt „Mein Amerika“. Im Vorfeld haben Sie eine Reise in die USA gemacht, die eine große Erfahrung für Sie war, haben Sie gesagt. Wie lange waren Sie denn unterwegs?

Zwölf Tage.

Nur zwölf Tage?

Jaja. Das war für mich schon eine große Überwindung.

Sie reisen nicht gern?

Doch, von diesen zwölf Tagen könnte ich schon wieder fünf Jahre zehren. Aber ich sage es mal so: Wenn mein Zuhause in Reichweite ist, dann fühle ich mich wohler. Aber ich versuche diese Grenzen auszuweiten – und immer länger und weiter weg zu sein.

Wo waren Sie in den USA?

In New York und Nashville.

Und dazwischen?

Bin ich geflogen.

Also haben Sie eigentlich gar nichts vom Land gesehen?

Ich habe keinen ausgedehnten Trip durch das Land gemacht. Aber mich hat das, was ich gesehen habe, trotzdem beeindruckt. Ich habe versucht, bewusst dort zu sein.

Amerika ist für viele ein Sehnsuchtsort. Für Sie auch?

Ja, klar.

Und jetzt, nachdem Sie da waren, sind Sie enttäuscht?

Nein, gar nicht. Natürlich hinkt jeder Vergleich, werden Erwartungen enttäuscht. Natürlich war Amerika nicht so wie die ­Rocky Mountains im Super-Mario-Spiel auf meinem alten Gameboy. Amerika war für mich immer wie eine Kulisse in einem Theaterstück. Die Reise war eher eine persönliche Erfahrung für mich, ich hatte nicht vor, das abzugleichen mit meinen märchenhaften Vorstellungen von diesem Land.

Und was haben Sie erfahren?

Zuerst einmal das, was alle dort erfahren: dass alles wahnsinnig groß ist, dass die Dimensionen ganz andere sind. Diese Riesenstraßen, diese Megasupermärkte, ich war im größten Biosupermarkt der Welt. Aber auch, dass man da weiter denken darf, das fand ich schon cool. Dass man Hochhäuser baut, dass man einfach mal guckt, wie hoch man die bauen kann. Ich habe dort erfahren, dass die Kraft, etwas zu erschaffen, individuell ist. Man darf dort so weit gehen, wie man will, und das hat mich schon inspiriert.

Hat Sie das inspiriert zu dem „Beginn einer neuen Ära“, die Sie in einem Interview angekündigt haben? Tatsächlich ist der Sound für Sie außergewöhnlich, die Songs sind üppig produziert, manches klingt gar nach Disco aus den 80er Jahren. Ist das die neue Ära?

Man muss sich ja immer die Frage stellen, warum man noch eine Platte machen muss, wenn man doch schon viel gesagt hat. Da habe ich mich auf die Suche gemacht, welche Facetten es noch in mir gibt.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mal nach einer Platte nicht unzufrieden gewesen wäre“

Neue Facetten entdecken, das klingt nicht eben nach Aufbruch in eine neue Ära.

Neue Ära. (Schweigen) Habe ich das gesagt?

(Nickt)

Ja, das habe ich gesagt. (Langes Schweigen)

Es tut mir leid, ich komme mir vor wie ein Zahnarzt.

Ach so? (Pause) Ja. Zahnarzt? Keine Ahnung. (Muss lachen)

Korrektur: In einer früheren Version des Interviews wurde Poisel gefragt, ob er in Nashville auch Elvis Presleys Haus „Graceland“ angeschaut hätte. Dieses steht allerdings in Memphis.

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