Pionier sexueller Emanzipation: Die vielen Spielarten des Natürlichen

Magnus Hirschfeld war Sexualwissenschaftler und erster Lobbyist der LGBTI*-Bewegung. Die Nazis zerstörten sein Institut, aber nicht sein Wissen.

Magnus Hirschfeld (re.) mit Dr. Li Shiu Tong auf einem Sofa

Magnus Hirschfeld (re.) mit Dr. Li Shiu Tong bei einer Konferenz in Brno, 1932. Li Shiu Tong war nicht nur Kollege, sondern auch Liebhaber Hirschfelds Foto: Wellcome Trust/Wiki Commons [CC BY 4.0]

BERLIN taz | Vor 150 Jahren, am 14. Juni 1868, wurde Magnus Hirschfeld in Kolberg, dem heutigen polnischen Kołobrzeg geboren. Der Sohn einer jüdischen Medizinerfamilie wurde Arzt und Sexualwissenschaftler. Aber vor allem war er Mitbegründer der ersten deutschen Homosexuellenbewegung und deren prominenteste Figur im Kaiserreich und während der Weimarer Republik.

Hirschfelds Lobbyismus trug maßgeblich dazu bei, dass der Paragraf 175, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte, im Reichstag beinah abgeschafft worden wäre – wenn nicht die Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 diese nahende Liberalisierung umgehend kassiert hätte.

Hirschfeld etablierte in Berlin, dort, wo heute das Haus der Kulturen der Welt und das Kanzleramt angesiedelt sind, 1919, kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs, sein Institut für Sexualwissenschaft. Es war bis zum Nationalsozialismus das intellektuelle und aktivistische Zentrum der queeren Bewegungen in Deutschland.

Spielarten des Natürlichen

Wissenschaftlich heute durchaus umstritten und nicht mehr im diskursfähigen Bereich ist Hirschfelds Theorie des Nicht­heteronormativen: Er erfand den Begriff „Zwischenstufen“ – nicht als Identitäts-, eher als Beschreibungskonzept selbst gewählter Praxen und Vorstellungen von dem, was einem das Sexuelle bedeutet. Hirschfeld etablierte dieses Wort für alles und alle, die sich nicht als Mann oder als Frau heterosexuell orientierter Art verstehen. Für ihn, salopp formuliert, gab es viele Spielarten des Natürlichen – nicht gottgegeben falsch, sondern irgendwie naturhaft vorhanden.

Ende der vierziger Jahre unterfütterte das Team um den US-Sexualwissenschaftler Alfred Kinsey die Annahmen Hirschfelds mit den bis dahin größten empirischen Untersuchungen: Menschen haben im Laufe ihrer Leben nicht allein heterosexuelle Sexualpraktiken, sondern auch lesbische, schwule – und sind in die Kategorien des Heteronormativen ohnehin nicht zu pressen.

Keine einzelne Person war dem völkischen Diskurs und seinen Freund*innen so verhasst wie Magnus Hirschfeld

Hirschfelds Wirken war lobbyistisch und expertokratisch orientiert: Beim ersten Schwulenfilm der damals noch jungen Filmgeschichte, „Anders als die anderen“ (R: Richard Oswald) aus dem Jahre 1919, schrieb Hirschfeld am Drehbuch mit und trat selbst als Arzt vor die Kamera, der dem Publikum mit der Autorität des Mediziners erklärt, dass Homosexualität keine Krankheit ist. Er lebte von den Tantiemen eines von ihm erfundenen Mittels gegen männliche Impotenz – bis zu seinem Tod einträglich. Das meiste Geld nutzte er für die Gründung des Instituts für Sexualwissenschaft, gelegen an der heute nicht mehr existierenden Adresse In den Zelten 10 am Tiergarten.

Hirschfeld kehrt nach einer 1931 angetretenen Vortragsreise in die USA und Asien nicht mehr nach Deutschland zurück; die neuen NS-Machthaber brandschatzten und plünderten das Institut für Sexualwissenschaft als erste Adresse ihres Hasses. Die Archivalien wurden nicht systematisch geborgen, sie verbrannten auf öffentlich inszenierten Bücherverbrennungen am 6. Mai 1933 – zwei Tage vor der offiziellen Bücherverbrennung auf dem Bebelplatz.

Keine einzelne Person war dem völkischen Diskurs und seinen Freund*innen so verhasst wie Magnus Hirschfeld. Er war dies schon 1920, als er nach einem Vortrag in München von einem völkischen Mob schwer verletzt wurde. Hirschfeld starb im Exil in Nizza an der Côte d’Azur an seinem 67. Geburtstag, am 14. Mai 1935.

Hirschfeld wird in der wissenschaftlichen Queer-Community durchaus zwiespältig gewürdigt, weil er dem zeitgenössischen Denken in eugenischen Kategorien etwas abgewinnen konnte: der Verbesserung des menschlichen Erbguts. Argumente, die ihm eine intellektuelle Mitverantwortung an den eugenischen Programmen der Nazis geben, sind irrig.

1933, schon nicht mehr in Deutschland, verfasste Hirschfeld einen der ersten wissenschaftlichen Aufsätze zum Thema „Rassismus“, der 1938 auf Englisch erstmals veröffentlicht wurde. Der Begriff des wird „Rassismus“ strikt abgelehnt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.