Pikettys Buch über Kapitalismus: Dem Teufel ein Schnippchen schlagen

Die Reichen werden reicher und die anderen nicht: Thomas Piketty hat mit „Capital in the Twenty-First Century“ einen Bestseller gelandet.

Thomas Piketty mit seinem „Buch des Jahrzehnts“. Bild: reuters

Wenn ein Buch ein solches Ereignis geworden ist wie „Capital in the Twenty-First Century“ von Thomas Piketty, dann haben Rezensionen beinahe etwas Unangemessenes. Dann ist die Aufnahme, die das Buch erfährt, selbst schon mindestens so spannend wie das Buch selbst.

Als „außerordentlich wichtig“ preist es Martin Wolf, der Starkommentator der Financial Times, eine „intellektuelle Sensation“, ruft die New York Times aus, Paul Krugman spricht schon vom „Buch des Jahrzehnts“ und der „Piketty-Revolution“. Ein Buch, das solche hymnische Resonanz erfährt, bestimmt dann die Richtung mit, in die die Debatte in den kommenden Jahren gehen wird.

Die kürzestmögliche Inhaltsangabe des Buchs lautet: Im Kapitalismus werden die Reichen reicher und die anderen werden es nicht. Diese Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten noch radikalisiert und wird es weiter tun. Es sei denn, man ändert ein paar entscheidende Dinge.

Aber was ist das überhaupt für ein Buch? Ein ökonomisches Theorie-Fachbuch ist es nicht. Dazu liegt sein Ton viel zu sehr auf der Empirie. Es ist eine monumentale wirtschaftshistorische Studie über Reichtum, Einkommen, die Entwicklung der Ungleichheit und das Wirtschaftswachstum, die sich auf zentnerschwere Datensätze aus mehr als zwei Jahrhunderten stützt.

Das Gymnasium ist die populärste Schulart. Es verspricht höhere Bildung und einen guten Job. Warum sich trotzdem immer mehr Eltern und Kinder dagegen entscheiden, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 17./18. Mai 2014. Außerdem: Krise? Welche Krise? Eine Landkarte mit Beispielen aus der Eurozone zeigt: Den Reichen ging es hier nie schlecht. Und: Wie Rainer Höß, der Enkel des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß, mit dem Erbe seines Großvaters lebt. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

In zwei Phasen zur Ungleichheit

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts führte der Kapitalismus in zwei Phasen zu einer immer ungleicheren Verteilung von Kapital und Vermögenswerten. Am Ende des 19. Jahrhunderts konzentrierten die obersten 10 Prozent in praktisch allen reichen Ländern 90 Prozent des Reichtums. Nur in der Phase zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit bis Ende der 1950er Jahre wurde diese Verteilung signifikant korrigiert, und zwar durch eine unsystematische Kombination von Zerstörung des Reichtums, Chaos, Inflation, progressiver Besteuerung und einer Lohn- und Sozialpolitik, die egalitär wirkte.

Nach dieser Phase war der Reichtum der Top 10 auf etwas weniger als 60 Prozent geschrumpft, die restlichen 40 Prozent besaß eine Mittelschicht. Immerhin war eine Mittelklasse entstanden, die auch etwas besaß. Für Piketty die Revolution des 20. Jahrhunderts. Seit den 1970er Jahren beschleunigt sich der Konzentrationsprozess wieder, sodass heute praktisch in allen Gesellschaften des Westens die Verteilung etwa so aussieht: Die Top 10 besitzen rund 60 Prozent, wobei in dieser Gruppe das oberste reichste Prozent seinerseits die Hälfte aller Vermögen konzentriert. Den schrumpfenden Rest hält die Mittelklasse. Der Rest hat, wie eh und je, nichts.

Piketty hat eine Fülle von spannenden Detaildaten, etwa über die Vermögensstände des allerobersten Top 0,1 Prozent, einer Gruppe der Superreichen, die zwar klein, aber auch nicht extrem klein ist: In einer Gesellschaft mit 50 Millionen Einwohner zählt sie immerhin rund 50.000 Leute, die Einkommen aus einer Kombination von Kapitalerträgen und Spitzengehältern von 3 Millionen Euro oder mehr lukriert. Genug, um täglich einem von ihnen auf der Straße zu begegnen.

Piketty unterlegt seine Empirie mit einer Theorie, einer Art Modell, das keine mathematische Ableitung ist, sondern eher eine Generalisierung der Empirie. Es verdichtet sich in einer Formel: r > g. Die Rendite aus Kapital ist höher als das Wachstum. Daraus ergibt sich eine Reihe von Folgeableitungen. Der Kapitalstock einer Gesellschaft wächst im Vergleich zum Nationaleinkommen stetig. Je höher das kumulierte Vermögen, desto höher der Anteil von Kapitaleinkommen an allen Einkommensarten. Kapitaleinkommen übertrumpfen Arbeitseinkommen. Anders gesagt: „Der Teufel scheißt auf den größten Haufen.“

Zwingende Konzentration von Reichtum

Wenn politisch nicht massiv gegengesteuert und das Wachstum auch noch gering ist (was in Zukunft der Fall sein wird), dann ist Reichtumskonzentration praktisch zwingend – eine „Gesetzmäßigkeit“ im Kapitalismus. Je größer die Ungleichheit einmal geworden ist, umso größer das Gewicht von Rentiers und Erben.

All das ist grandios und mit eine Fülle an Beweisen dargelegt. Wenn man unbedingt ein Haar in der Suppe würde suchen wollen, könnte man kritisch zwei Dinge anmerken. Erstens: Ein wenig hat das die Schlagseite eines antiutopischen Determinismus oder, simpler gesagt, etwas Deprimierendes. Es kann, unter normalen Umständen, gar nicht anders sein, als dass es im Kapitalismus zu einer „relativen Verelendung“ der großen Mehrheit im Vergleich zu den Kapitalbesitzern kommt.

Zweitens: Jene Phase des sozialreformerischen Gegenwirkens der 20er bis 50er Jahre wird von Piketty wie ein Unfall der Geschichte beschrieben, der zufällig aufgrund von Kriegschaos eine Gegenbewegung bewirkte. Dass es eine bewusste, planmäßige Politik von engagierten Männern und Frauen war – Präsident Roosevelt, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, progressiver Ökonomen und vieler anderer – und nicht bloß ein „Unfall“ der Geschichte, kommt etwas kurz.

In den vergangenen Jahrzehnten entstanden überall „politische Regimes, die objektiv privates Kapital begünstigen“. Durch den Wettlauf nach unten – Stichwort: Standortwettbewerb – wurde Kapital gegenüber Arbeitseinkommen sogar noch privilegiert. Pikettys Plädoyer ist, das wieder umzudrehen. Durch Erbschaftsteuern, global konzertierte Steuerharmonisierung, eine progressive globale Kapitalsteuer (global im Sinn von international akkordiert, aber von den Nationalstaaten bzw. der EU eingehoben), die flach beginnt und bei den höchsten Vermögen konfiskatorisch wirkt. Das hat dem Autor schon den Vorwurf eingehandelt, seine Vorschläge seien absolut unrealistisch.

Thomas Piketty: „Capital in the Twenty-First Century“. Harvard University Press, Cambridge 2014, 685 S., 31,07 Euro.

Aber natürlich könnte man das Schritt für Schritt beginnen. Etwa, indem man fürs Erste den „Steuerwettbewerb“ in den EU beendet, Arbeitseinkommen entlastet und etwa mit Erbschaftsteuern gegenfinanziert. Das ist nicht unmöglich, sondern hängt von der demokratischen Willensbildung ab. Selbst die diversen Reichenverteidigungsligen in der Politik werden nicht umhinkommen, Folgendes zu begreifen: Die hohen Schuldenstände der Staaten können anders gar nicht abgebaut werden. „Europa hat das höchste Niveau privater Vermögen der Welt und gleichzeitig die größten Schwierigkeiten, seine Krise der öffentlichen Verschuldung zu lösen – ein absurdes Paradoxon“, schreibt Piketty.

Unmöglich? Gar nicht. Müssen nur wollen.

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