Pfarrbeauftragter über Kirche im Wandel: „Ich bin bald Teil einer Randgruppe“

Michael Göcking ist kein Priester, leitet aber trotzdem die katholische Pfarreiengemeinschaft Wellingholzhausen/Gesmold im Bistum Osnabrück.

Michael Göcking in geistlichem Gewand.

Taufen darf er nicht, leiten schon: Pfarrbeauftragter Michael Göcking Foto: Uwe Lewandowski

taz: Herr Göcking, Pfarreien zu leiten, als Nicht-Priester, ist höchst ungewöhnlich. Zeigt sich an Ihnen, dass das Bistum Osnabrück besonders reformwillig ist?

Michael Göcking: Die Bereitschaft, jenseits des Traditionellen zu denken, neue Wege zu erproben, ist in unserem Bistum wirklich sehr ausgeprägt.

Eine Freiheit, um die Kollegen Sie beneiden?

Ja, das höre ich oft: „Ihr habt Glück, bei euch ist Mut möglich, ihr hängt an keinem Gängelband …“

Als Pfarrbeauftragter leisten Sie Verwaltungsarbeit, sind Mitglied in Pfarrgemeinderat und Kirchenvorstand, leiten die Seelsorge, predigen, beerdigen. Was dürfen Sie nicht, was ein Priester darf?

Ich habe keine Sakralbefugnis. Ich taufe nicht, mache keine Krankensalbung, keine Eheassistenz, leite keine Eucharistiefeier.

Was machen Sie anders als ein Priester?

Grundsätzlich? Eigentlich nichts. Der Unterschied liegt darin, dass ich ein anderer Mensch bin, mit einer anderen Biografie. Ich bin verheiratet, habe Kinder … Das fließt in mein Tun natürlich ein. Es ist nicht entscheidend, ob ich Priester bin oder nicht. Entscheidend ist, was ich mitbringe. Meine Eigenheiten, meine Fähigkeiten.

ist 1958 in Rheine geboren, verheiratet, hat drei Söhne und lebt in Wellingholzhausen im Landkreis Osnabrück, Niedersachsen. Er ist leidenschaftlicher Kartenspieler, Chorsänger, Radfahrer und Koch.

Seit Dezember 2018 ist Göcking der Pfarrbeauftragte in St. Petrus Gesmold und St. Bartholomäus Wellingholzhausen. In Münster hat er Katholische Theologie und Sprecherziehung studiert. Er hat in der Jugend- und Erwachsenenbildung gearbeitet, war Religionslehrer und Pastoralreferent. 2017 bis 2018 war er Dekanatsreferent in Osnabrück-Süd und Katholischer Beauftragter für die Landesgartenschau Bad Iburg.

Ihre Berufung fußt auf einer Ausnahmeregelung des Kirchenrechts, die voraussetzt, dass nicht genügend Priester zur Leitung der Gemeinden zur Verfügung stehen. Heißt das, dass Sie das Amt wieder verlieren, sobald sich ein Priester anbietet?

Ja, das würde es heißen, rein theoretisch. Aber das wird nicht eintreten. Der Priestermangel ist ja eklatant – und er nimmt zu. Das Experiment ist auch beendet, sobald der Bischof nicht mehr dahintersteht. Aber auch das wird nicht eintreten – Franz-Josef Bode hat es ja selbst initiiert, er unterstützt es stark. Ganz anders als Tebartz-van Elst, der ein ähnliches Modellprojekt in Limburg seinerzeit gestoppt hat.

Das Bistum Osnabrück hat zurzeit 208 Pfarreien, zusammengefasst in 72 Pfarreiengemeinschaften und größeren Gemeinden. Es soll vermieden werden, dass es durch Priestermangel zu weiteren Zusammenlegungen kommt. Ihre Berufung ist also eine Tugend, die aus der Not geboren ist?

Gewissermaßen. Dabei steht das Bistum Osnabrück noch vergleichsweise gut da. Trier wird 900 Pfarreien zu 35 zusammenfassen. In Saarbrücken kommt auf 100.000 Gemeindemitglieder eine einzige Pfarrei.

Wie lief das eigentlich ab? Bischof Bode hat Ihnen ein Angebot gemacht?

Unser Personalreferent hat mich gefragt, ob ich mir das vorstellen kann, und ich hätte ablehnen können. Aber ich fand die Idee reizvoll. Und ich war beeindruckt von seinem Vertrauen in mich. Also habe ich mir Bedenkzeit erbeten, mit meiner Familie gesprochen, mit Freunden. Passt das zu dir, habe ich mich gefragt, traust du dir das zu? Schließlich wohne ich ja in Wellingholzhausen und will da auch weiterhin wohnen, und wenn dann was schiefgeht …

Sicher keine leichte Entscheidung, sich auf ein Experiment einzulassen, auf das ganz Deutschland schaut?

Das stimmt. Aber mit 60 einfach nur auf die Rente warten? Sowas ist nichts für mich. Außerdem ist die Unterstützung ideal. Vom Bischof, von meinen Gemeindekollegen, durch Supervisionen, Coachings.

Es gab eine Gemeindeversammlung im Vorfeld Ihrer Berufung. Kam da Skepsis auf?

Widerstand gegen die Strukturänderungen, gegen den Prototyp an sich? Nein, da kam nichts, und das hat uns selbst ein bisschen überrascht. Aber es gab viele Detailfragen. Wie es jetzt mit dem Gottesdiensten weitergeht, der Seelsorge. Am Ende herrschte eine sehr positive Aufbruchstimmung. Ein wenig Wehmut war zu spüren, ein wenig Trauer, schließlich geht hier eine jahrhundertelange Kontinuität zu Ende, es war ja immer ein Priester vor Ort, manchmal sogar drei, das ist schon ein Paradigmenwechsel. Aber allen war klar: Wir müssen und wollen uns verändern.

Keine Einwände, weil Sie kein Priester sind?

Gar nicht. Entscheidend ist ja, ob ich die Leute ansprechen kann, bewegen kann, ob ich sie erreiche. Kann ich leiten, mich durchsetzen? Das sind natürlich Suchbewegungen – für einen Ausweg. „Das können wir als heilsamen Unsinn verstehen“, hat der Theologe Johannes Panhofer mal gesagt, „als Not- und Übergangslösung zu einer neuen Gestalt von Gemeinde.“ Hat was, der Satz.

Vor ein paar Wochen, nach 100 Tagen Amtszeit, gab es eine erste Zwischenbilanz, wieder als Gemeindeversammlung. Wie waren da die Reaktionen?

Sehr bestärkend. 170 Leute waren da. Und das an einem Sonntag, um 16 Uhr, das zeigt schon was! Das macht ihr gut, hieß es, ihr seid sehr präsent in der Gemeinde.

Aber sicher können Sie nicht alle Erwartungen erfüllen?

Nein, es gibt nicht immer nur Kompromissbereitschaft zwischen Tradition und Moderne. Aber die Kritik betraf nichts Generelles, nur Details. Etwa, dass wir nicht jeden Sonntag in jeder unserer beiden Gemeinden eine Eucharistiefeier ausrichten, sondern in einer von ihnen stattdessen einen Wortgottesdienst, und am Samstagabend davor die ­Eucharistie. Aber so ist eben jetzt unser Modell, erst mal für ein Jahr, und das ziehen wir durch.

Ihnen steht ein „moderierender Priester“ zur Seite, der nicht vor Ort lebt – und der für die Sakramente verantwortlich ist. Wie weit geht dessen Einfluss?

Wir stimmen uns natürlich ab. Aber in meinen Entscheidungen bin ich gänzlich frei. Ich habe die pastorale Leitungskompetenz, bin Leiter der Gemeinde mit Personalverantwortung. Klar ist natürlich: Würden wir nicht am selben Strang ziehen, oder in verschiedene Richtungen, wäre das Modell gescheitert. Aber die Zusammenarbeit ist ideal. „Moderierender Priester“ ist übrigens wirklich ein schwieriger Begriff. Der verunklärt manches. Auch das: ein Stück heilsamer Unsinn. Aber manchmal führt dich deine Wanderung eben auch in schräges Gelände.

Wie viele Ihrer 6.500 Gemeindemitglieder erreichen Sie eigentlich?

Zehn Prozent in den Gottesdiensten, und damit liegen wir im Bistumsdurchschnitt. Als ich in den 1990er-Jahren ins Bistum kam, lagen wir noch bei 25 Prozent, mindestens. Das ist also sehr gesunken. Und das wird weiter sinken. Rainer Bucher, ein Theologe aus Graz, hat mal gesagt: „Wir nähern uns in allen Bereichen der Null-Linie.“ Harte Worte, aber da ist was dran. Rund 600 Gemeindemitglieder kommen zu unseren Wochenendgottesdiensten, Ostern und Weihnachten sind es 2.000.

Was tun?

Früher war ich als Christ Teil einer Mehrheit, bald bin ich Teil einer Randgruppe, und die Kirche muss Wege finden, damit umzugehen. Falsch wäre, wenn sie jedem Zeittrend hinterherliefe. Aber sie muss sich erneuern, strukturell. Klar ist: Das Christentum kann noch immer etwas beitragen zur Gesellschaftsentwicklung, auch spirituell – zumal in Zeiten, in denen die Menschen nach Sinnstiftung suchen, gegen die Kälte des Kapitalismus, gegen die des Materialismus.

Jedes Jahr tritt eine vierstellige Zahl von Gemeindemitgliedern im Bistum Osnabrück aus der Kirche aus; die Zahl der Katholiken im Bistum sinkt kontinuierlich. Tragen Berufungen wie die Ihre dazu bei, diese Entwicklung zu beeinflussen?

Das ist natürlich schwer zu sagen. Ich würde es gern hoffen. Aber die Verluste sind natürlich gewaltig. Über eine Viertelmillion Katholiken treten jedes Jahr aus der Kirche aus, bundesweit. Das ist ein genereller Trend, verstärkt dadurch, wie die Kirche auftritt und handelt.

Bischof Bode hat jüngst die sexuelle Gewalt, die tausendfach von katholischen Klerikern ausging, als „gleichsam strukturelle Sünde in der Kirche“ bezeichnet.

Diese entsetzlichen Taten haben uns natürlich massiv Glaubwürdigkeit gekostet. Auch sie werden uns noch viele Austritte bescheren. Die Leute sind maßlos enttäuscht, und das zu Recht. Wichtig ist jetzt, wie wir mit dieser Katastrophe umgehen. Welche Konsequenzen wir ziehen.

Die Frühjahrsvollversammlung der Bischofskonferenz in Lingen war ein Trauerspiel. Bewegt hat sich nicht viel, trotz Bodes Reform-Vorstößen. Ist es derzeit nicht ziemlich schwer, als Leiter einer Gemeinde zu signalisieren: Leute, es tut sich was?

Wir müssen neue Andockmöglichkeiten bieten, altgewohnte Wege verlassen. Auch, indem wir das Ehrenamt weiter stärken. Ehrenamtliche müssen mehr Verantwortung in der Gemeinde bekommen, mehr Entscheidungsbefugnisse. Wir bilden zum Beispiel Ehrenamtliche aus, selbst Gottesdienste zu gestalten.

Sollte sich Ihr Melleraner Modell bewähren: Rechnen Sie mit weiteren Pfarrbeauftragungen von Nicht-Priestern im Bistum?

Absolut. Womöglich noch in diesem Jahr. Auch für andere der 72 Gemeinden wird sich über kurz oder lang kein Priester mehr finden. 20 Beauftragungen halte ich auf Dauer für realistisch, vielleicht 25.

Was, wenn Hardliner in Ihren Kirchenvorstand, in Ihren Pfarrgemeinderat gewählt werden, die den Reformprozess nicht mittragen?

Das wäre natürlich ein bisschen misslich. Aber diese Gefahr sehe ich nicht.

Warum ist der Priestermangel eigentlich so groß?

Das liegt natürlich auch am Zölibat, aber gewiss nicht nur. Dasselbe Problem zeigt sich ja auch in der evangelischen Kirche. Klar ist: Die Kirche verliert generell stark an Bedeutung.Viele Menschen glauben offenbar nicht mehr, dass sie Antworten auf die zentralen Fragen unserer Zeit hat, und das demotiviert.

Die katholische Reformbewegung „Wir sind Kirche“ müsste sich über Ihre Berufung ja eigentlich freuen. Hat sie zu Ihnen schon Kontakt aufgenommen?

Bisher nicht. Aber ich höre, sie begrüßt sehr, was bei uns in Melle geschieht. Es ist ja auch was Besonderes und hat ziemliche Wellen geschlagen. Bis zu einer Zeitung in Indien.

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