Pariser Muslime nach den Anschlägen: Die geteilte Nation

„Unsere Gesellschaft hat Mist gebaut. Sie hat Ghettos geschaffen.“ Nicolas sucht wie viele andere Muslime nach einer Erklärung für den Terror.

Am Freitag vor der Großen Pariser Moschee. Bild: ap

PARIS taz | „Gott sei Dank, dass dieser Albtraum vorbei ist.“ Im Hintergrund des kleinen Bistro Lez’Arts in der Rue d’Aubervilliers läuft wie überall am Freitag der Fernseher, Liveschaltung an die Porte de Vincennes, wo gerade eben die Geiselnahme in einem jüdischen Geschäft zu Ende gegangen ist. Vier Geiseln tot, die Geiselnehmer und mutmaßlichen Mörder der halben Redaktion von Charlie hebdo ebenso. Das Bistro ist leer, der Barbesitzer sortiert Besteck. „Hier im 20. Arrondissement hat keiner schlafen können“, sagt er, „es war traumatisch. Ich habe das schon einmal erlebt, in den 80ern in Algerien.“ Er holt sein Handy aus der Tasche und zeigt auf dem zersprungenen Display eine Nachricht seiner 12-jährigen Tochter vom Vortag: „Papa, bitte geh nicht raus.“

Gleich um die Ecke, in der Rue du Tanger, stand bis vor ein paar Jahren die Moschee, in der einer der beiden Kouachi-Brüder Kontakt zum radikalen Islam gefunden haben soll. Die Moschee sucht man heute vergebens, sie wurde zerstört. Eine neue, größere ist geplant, aber nicht fertig gestellt, während ein paar Häuser weiter das Kulturzentrum 104 mit Neonkunst einen Wandel in der eher ärmlichen Gegend andeutet.

Statt Moschee gibt es in der Rue d’Aubervilliers einen Gebetsraum im Keller eines etwas heruntergekommenen Mietshauses, gelb-grüner Teppich, viele abgetragene Schuhe vor der Tür, die offen steht. Es ist die Stunde des freitäglichen Abendgebets, viele Besucher sind afrikanischer oder arabischer Herkunft. Nur Männer, bis auf die Verwalterin, die Journalisten an eine Telefonnummer des privaten Betreibers verweist.

„Ich habe Angst“

Ein Brüderpaar ist draußen zu einem kleinen Gespräch bereit. Nicolas, der Ältere, 40, ist Informatiker, sein jüngerer Bruder technischer Zeichner. Der Ältere redet, bedächtig. „Ich habe Angst“, sagt er, „dass es mehr Anschläge gegen Muslime gibt.“ Schon am Freitag richtete sich einer gegen eine Moscheen am Stadtrand. „Unsere Gesellschaft hat Mist gebaut. Sie hat Ghettos geschaffen“, sucht Nicolas nach einer Erklärung für das Phänomen junger Islamisten. „Die jungen Leute wollen teilhaben. Das haben die Aufstände 2005 in den Vororten gezeigt. Man muss sie ernst nehmen. Aber sie fühlen sich ausgegrenzt.“

Kaum jemand, den man in diesen Tagen spricht, der keine Besorgnis äußert. Allen sind die 48 Stunden, in denen der Terror seine Spur durch Paris zog, anzumerken. Die Angst geht um in den muslimischen Gemeinschaften, die Angst, haftbar gemacht zu werden von der französischen Mehrheitsgesellschaft, die Angst vor Gleichsetzung von Islam und Islamismus, die Angst, dass die Islamophobie zunehmen könnte.

Ein Thema, mit dem sich Zekri Abdallah auskennt. Der Präsident des Nationalen Zentrums gegen Islamophobie steht am Donnerstag in der Eingangshalle der Großen Moschee von Paris Journalisten Rede und Antwort. Er verurteilt die Gewalt. „Man rächt keinen Propheten, der schon lange tot ist.“

Ein typischer Verbandsvertreter, der eloquent die Anliegen seiner Klientel vorbringt. Die Muslime seien nach Attentaten immer die ersten Opfer. „Das ist jedes Mal so.“ Abdallah fordert Polizeischutz vor Moscheen, die juristische Verfolgung von Übergriffen auf Muslime. Während – fast – ganz Frankreich am Tag eins nach dem Anschlag um die Crème de la Crème der französischen Karikaturisten trauert, verschiebt sich die Opferperspektive bereits unmerklich. Angst übertrumpft Empathie. Die Moschee hat einen wunderschönen Innenhof, der zur Ruhe und Besinnung einlädt. An diesem Nachmittag bleibt er geschlossen.

Ob er ein liberaler Imam sei? „Nein“ sagt er

Draußen vor der Moschee diskutiert Aoussat Noureddine, in seiner Tasche trägt er das von ihm verfasste Buch über „Das wahre Gesicht des Propheten“ mit sich herum. Sein Beitrag zum Karikaturenstreit. Außerdem mehrere Hebdo-Ausgaben, darunter auch die letzte vom Mittwoch, mit dem Provokateur Houellebecq auf dem Titel. „Ich habe sehr gelacht“, sagt der Mann mit den braunen Augen und braunem Mantel. Als hätten die Zeichner zum Humor der 70er Jahre zurückgefunden. Noureddine ist Kommunikationswissenschaftler und Imam in einer kleinen Moschee im Süden von Paris. Ob er ein liberaler Imam sei? Liberal? „Nein“ sagt er dann. „Fundamentalist.“ Nur der Text zähle für ihn, der Koran.

Ortswechsel. Radio Beur FM hat an diesem Abend eine Sondersendung zu den Anschlägen im Programm. Der Name „Beur“, den sich die zweite Einwanderergeneration aus dem Maghreb vor 30 Jahren gegeben hat, ist etwas aus der Mode gekommen. Chefredakteur Abdelkrim Branine, 39, klein, kariertes Hemd, Sneakers, klettert auf seinen Moderatorenhocker. Er hat drei Gäste geladen: eine Journalistin, einen Aktivisten und einen Politologen, die in seltsamer Einmütigkeit an diesem Abend über die Folgen der Anschläge reden werden, während draußen die Verfolgungsjagd noch voll im Gange ist. Sie fürchten Gegenanschläge auf Muslime, sie kritisieren die Heuchelei der Politiker, die den sozialen Ausschluss und die Islamophobie schüren – und sie möchten nicht am Sonntag an einer Kundgebung teilhaben, zu der auch Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National kommen könnte. Keine Einheit der Nation, auch nicht ausnahmsweise – die gefürchtete Spaltung der Gesellschaft ist längst vollzogen.

„Ich bin Charlie – und bin es zugleich nicht“

Für Abdel Bensefia ist es keine Frage, dass er zur „Manif“ am Sonntag geht. „Als Bürger, nicht als Muslim“, sagt der 41-jährige Berufsschullehrer, der aus der Vorstadt Gennevilliers kommt. „Ich bin Charlie – und bin es zugleich nicht“, sagt er außerdem. Er arbeitet bei der Vereinigung „Banlieue plus“ mit, die sich nach den Vorstadtkrawallen von 2005 gebildet hat. Um gegen das schlechte Bild, das die französischen Medien von den Vorstädten zeichneten, anzugehen, erklärt er.

Gennevilliers, an der Endhaltestelle der Metrolinie 13 gelegen, hat in den letzten Jahren einige Verschönerungsmaßnahmen verpasst bekommen. Die langen Riegel der 60er-Jahre-Mietskasernen wurden entzweigeschnitten und saniert, dazwischen Grünanlagen angelegt. Der Name Lautenviertel, Quartier de Luth, ist allerdings immer noch weit hergeholt.

„Als Kind fand ich das hier okay“, sagt Bensefia, 41, eins von acht Kindern einer aus Algerien kommenden Familie. „Es war lebendig, und es gab ein echtes Zusammenleben“. Banlieue plus agiert über das soziale Netz, sie basteln gerade am Transparent für die Kundgebung. „NousSommesEnsemble“ („Wir sind zusammen“) heißt ihre Parole, die auch einen zwiegespaltenen oder doppelten Charlie aushält.

Die Vorzeigevorstadt

Empfindet Bensefia die Ereignisse nicht als bösen Rückschlag für ihre Arbeit? Kommen die Vorstädte jetzt nicht wieder ins Gerede? Um die Ecke etwa, in Les Agnettes, haben die Kouache-Brüder mal gewohnt. „Das sieht auch nicht anders aus als hier“, erklärt Bensefia. „Ich habe meinen Weg gemacht. Aber ich weiß, dass es diese Momente gibt, in denen man leicht vom Weg abkommen kann.“ Wenn der Familienhalt wegbricht, die Schule nicht läuft. „Sozialarbeit passiert immer erst, nachdem etwas geschehen ist.“ Auch das Polizeikommissariat in Gennevilliers ist schon lange geschlossen. „Das war eine soziale Instanz, die war wichtig.“ Heute kommen die Polizisten von außerhalb und kennen die Jugendlichen gar nicht.

Gennevilliers ist so etwas wie eine Vorzeigevorstadt. In Pantin- Quatre Chemins, das zu Aubervilliers gehört, geht es rauer zu. Auf den Straßen ist mehr Arabisch zu hören, Männer tragen lange Gewänder, Frauen Einkaufstüten. Es ist Samstag, früher Nachmittag. In den Seitenstraßen gibt es „La Rose de Tunésie“ mit orientalischem Gebäck, bengalische Imbisse, afrikanische Friseurläden und sogar einen Tabac, der die Tageszeitung Libération verkauft. Vor dem Sportcafé in der Hauptstraße diskutieren Abdel und Karim mit Freunden. Im Café drinnen liegen Wettzettel auf dem Boden, im Fernsehen läuft Pferderennen. Ein bisschen wetten, 2 Euro, dann Karten spielen, das ist Abdels und Karims bescheidenes Wochenendvergnügen. Beide kennen sich noch aus ihrer Jugendzeit in Algier. Beide haben die Islamisten dort fürchten gelernt.

Doch heute sind sie aufgeregt, fast ein bisschen aufgekratzt und durchaus empfänglich für ein Gespräch. Die Anspannung der letzten Tage ist noch nicht von ihnen abgefallen. Vor allem Abdel, Mitte bis Ende 30, Rathausangestellter mit schlechten Zähnen, sagt immer wieder: „Ein Albtraum. Glauben Sie mir: Kein Muslim macht so was.“ Ein Dritter, ein kleiner Wirrkopf, schaltet sich ein: „Das waren keine Muslime, das war ’la racaille‘“, wie Expräsident Sarkozy die Vorstadtjugend genannt hat – der Pöbel, Abschaum, schimpft er. Am besten gleich: „Todesstrafe.“ Die seien doch schon tot, Dummkopf, sagt Abdel. Wie erklären Sie, dass sich junge Männer wie die Kouache-Brüder radikalisieren? „Das Gefängnis macht das, das Internet – nicht unser Café“, die Einladung zum Kaffee ins Café folgt prompt. Die Jugend müsse anders angesprochen werden, meint Karim. Dass die Imame aus dem Ausland geschickt würden und oft kein Französisch könnten, das findet er problematisch. „Die Jungen können doch mit denen gar nichts anfangen.“

Die Jugendfreunde aus Algier haben in Paris Fuß gefasst, Familie gegründet. Sie besuchen die Moschee, ihre Frauen arbeiten, die Karikaturen fanden sie nicht gut. Karim, 41, ein schmaler Typ mit brauner Lederjacke, hat anders als Abdel keinen französischen Pass, aber inzwischen eine Aufenthaltsgenehmigung, er arbeitet selbständig. Wie es denn in Deutschland sei, fragt er, Pegida hat sich selbst bis nach Pantin-Quatre chemins rumgesprochen. Angst, dass es demnächst gegen die Muslime gehen könnte, haben sie schon. Aber zur Kundgebung am Sonntag gehen sie darum: „alle“.

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