Orthodoxe Geschichtsschau in Moskau: Für eine Handvoll Dollar

Postfaktizismus auf russisch-orthodoxe Art: Die Ausstellung „Russland – meine Geschichte. 1945–2016“ imaginiert Welthistorie.

Ein Mann klettert auf zwei übergroße Sandfiguren

Kohl und Gorbatschow, hier aus Sand bei einem ukrainischen Festival 2007 Foto: ap

Wie viel den Deutschen die Wiedervereinigung wert gewesen sei? Genau 3 Millionen Dollar. So zumindest behauptet es der Museumsführer der Moskauer Ausstellung „Mein Russland“, in der unter anderem die Vorgeschichte der deutschen Einheit erzählt wird. 50 Milliarden US-Dollar hätten der Sowjetunion im Tausch gegen die DDR zugestanden.

„Was am Ende herauskam?“, fragt der noch flaumbärtige Mann. Jene 3 Millionen. Exbundeskanzler Helmut Kohl hätte die Notlage Michail Gorbatschows genutzt und den klammen Generalsekretär der Kommunistischen Partei mit dieser Summe abgespeist. Nach reichlich Alkoholkonsum, empört sich der junge Mann.

Tatsächlich überwies Deutschland damals zweistellige Milliardensummen. Dass Gorbatschow keinen Alkohol trank und sich mit einer Antialkoholkampagne in der UdSSR viele Sympathien verspielte – auch das sorgt hier nicht für Einspruch unter den Besuchern.

Im nächsten Saal steht bereits Russlands erster Präsident Boris Jelzin am Pranger. Er habe die Sowjetunion demontiert und „liebedienerisch“ vor den Amerikanern Rechenschaft abgelegt, erläutert der Begleitfilm. Haften bleibt: das Image des Verräters.

„Russland – meine Geschichte. 1945–2016“ ist der letzte Zyklus einer vierteiligen Geschichtsserie, die die Kulturabteilung der orthodoxen Kirche seit zwei Jahren veranstaltet. Das Projekt umspannt insgesamt 1.200 Jahre – von den Anfängen der Kiewer Rus im 9. Jahrhundert bis zur Regentschaft Putins. Bischof Tichon, Beichtvater und Ratgeber des Kremlchefs in geistlichen Fragen, konzipierte die Ausstellung.

Angst vor revoltierenden Massen

Auf kirchlichen Segen muss man nicht verzichten. Wer möchte, kann vor dem Rundgang noch einen Schlenker zur Ikone der Gottesmutter von Wladimir unternehmen. Zwei Popen empfangen. Nach Segen und Kuss mündet auch dieser Abstecher in die Historienschau.

Heerscharen von begeisterten Besuchern schoben sich bereits durch die Moskauer Manege unterhalb der Kremlmauer. Demnächst zieht die Schau in das endgültige Domizil auf ein Gelände um, auf dem zu Sowjetzeiten die Errungenschaften der sozialistischen Volkswirtschaften gepriesen wurden.

Der Rundgang beginnt mit dem Jahr 1945 und einer Sentenz von Carl von Clausewitz. 1812 hatte es den Militärtheoretiker in russische Dienste verschlagen. „Nur durch eigene Schwäche und Wirrungen des inneren Zwiespalts kann Russland bezwungen werden“, analysierte Clausewitz in „Vom Kriege“. Die Ausstellung macht dies zum Leitmotiv.

Russland wird so quasi von Natur aus von fremden Mächten permanent bedroht. Auch im Innern werde Unruhe geschürt. Moskaus akute Angst vor revoltierenden Massen, wie in der heutigen Ukraine, verbirgt sich dahinter. Jede demokratische Forderung gerät in dieser Logik zu einem Anschlag auf die innere Stabilität. Die meisten Russen teilen diesen Glauben an die dauerhafte Bedrohung.

Zeigte sich diese Feindseligkeit nicht schon 1945? Warum sonst verließen die USA mit ihren Verbündeten die erfolgreiche Anti-Hitler-Koalition und brachen den Kalten Krieg vom Zaun, fragt ein Begleittext. Das Wesen des Westens sei schuld. Er habe nur den eigenen Vorteil im Sinn.

Dies mag mitunter gar zutreffen. In „Mein Russland“ wird es aber zum erkenntnisleitenden Prinzip. Der Marshallplan schrumpft zum bloßen antisowjetischen Druckmittel. Dem begegnete Osteuropa durch den freiwilligen Zusammenschluss im gemeinsamen Wirtschaftsrat des Comecon, lesen wir.

Den äußeren und inneren Bedrohungen, so der Geist der Ausstellung, werde man trotzen. Am Ende des Rundgangs fordert Putin von einem Banner herab den Besucher zu Standfestigkeit auf: „Wir dürfen nicht zulassen, dass man uns Schuldgefühle einimpfen möchte“. Dunkle Kapitel der Geschichte? Fehlanzeige.

Stattdessen gibt’s Selbstlob. Produktionsziffern aus Industrie, Rüstungssektor und Landwirtschaft unterstreichen die Lebensfähigkeit des sozialistischen Systems von den Anfängen bis in die späte UdSSR. Reformstau wird zwar eingeräumt. Dass die Sowjetunion sang- und klanglos unterging, hätte an Faktoren gelegen, auf die Moskau keinen Einfluss hatte. Die USA hätten am Ölpreis gedreht.

Damit die Geschichte rund bleibt, werden auch Ungarnaufstand (1956) und Prager Frühling (1968) nachträglich in die Verschwörungstheorie westlicher Farbrevolutionen eingearbeitet. Das Kapitel Stalin wird aufgehellt. „Mein Russland“ stellt für die Epoche Putin gewissermaßen das dar, was der „Kurze Lehrgang“ der Kommunistischen Partei einst für die Stalinzeit bedeutete: Leitfaden einer imaginierten Geschichte.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.