Opfer und Täter sexueller Belästigung: Ende des Schweigens

In den USA scheinen zwei prominente Vorkämpfer gegen sexuelle Übergriffe nicht nur Ankläger und Opfer, sondern auch selbst Täter zu sein.

Eine Frau hält ein Schild, auf dem „#MeToo" und „#WithYou“ stehen

Auch in Südkorea schließen sich Frauen im Rahmen der Metoo-Bewegung zusammen Foto: dpa

Es ist keinen Monat her, dass Eric Schneiderman dem New Yorker und der New York Times zum Pulitzer-Preis gratulierte: Ohne ihre Recherchen zu sexuellen Übergriffen wäre jetzt keine landesweite Abrechnung im Gange. Vor einer Woche erschien dann im New Yorker ein Artikel über Schneiderman selbst – wenige Stunden später trat er als New Yorker Generalstaatsanwalt zurück. Vier Frauen werfen ihm vor, sie misshandelt zu haben.

Die #MeToo-Bewegung hat es geschafft, dass die vermeintlich progressive Politik oder Kunst eines Manns nicht mehr dafür herhalten können, dass seine sexistischen Übergriffe unter den Teppich gekehrt werden. Das ist ein Fortschritt. #MeToo kann die Komplexität aushalten, dass jemand Vorkämpfer gegen sexistische Gewalt und gleichzeitig Täter sein kann. Mehr noch: Die Debatte kann auch damit umgehen, dass ein Mann gleichzeitig Täter und Opfer sexualisierter Gewalt sein kann – wie ein weiterer aktueller Fall zeigt, der des Schriftstellers Junot Díaz. Und vielleicht stellt sie endlich ein effektives Mittel dar, sexistische Gewalt einzudämmen.

Zunächst zu Schneiderman: Der prominente demokratische Politiker und Trump-Kritiker war seit 2011 Attorney General von New York, also der Generalstaatsanwalt und Justizminister des US-Bundesstaates. Schneiderman hat sich für die #MeToo-Bewegung eingesetzt und gegen Gewalt gegen Frauen, so hat er im Februar 2018 gegen Harvey Weinstein ein Verfahren eingeleitet.

Offenbar hat Schneiderman aber auch selbst die Gewalt angewendet, ­gegen die er beruflich vorgegangen ist: Exfreundinnen berichten von Schlägen, Würgen, Drohungen und emotio­nalem Missbrauch. Er bestreitet die Anschuldigungen und spricht von einvernehmlichen Rollenspielen. Die Betroffenen sehen das ganz anders: Sie sprechen von unvermittelter Gewalt, sowohl beim Sex als auch in allen möglichen anderen Situationen.

Sie sprechen auch über ihre Scham darüber, zu lange in der Beziehung geblieben zu sein und danach geschwiegen zu haben. Sie berichten von Drohungen, die Schneiderman ausgesprochen habe, und fürchteten um ihren Ruf, ihre Karriere und auch ihr Leben. Eine der Betroffenen habe sich FreundInnen anvertraut, die ihr rieten, die Geschichte für sich zu behalten – Schneiderman sei für die Demokraten ein zu wertvoller Politiker.

Solidarität geht vor

Trotz alldem sind vier Frauen an die Öffentlichkeit getreten, Michelle Manning Barish und Tanya Selvaratnam mit ihren Namen, zwei weitere anonym. Weil sie es unsolidarisch fanden, ihr „Me too“ zu verschweigen. Weil sie durch die Recherche voneinander erfahren hatten und weitere Frauen schützen wollten. Vor allem aber fanden sie Schneidermans Verlogenheit unerträglich. Er behauptet, die Anschuldigungen haben mit seinem beruflichen Verhalten nichts zu tun. Gewissermaßen stimmt das: Er war offensichtlich in der Lage, gleichzeitig in seinen Beziehungen Gewalt auszuüben und sie beruflich zu bekämpfen.

Vermeintlich progressive Politik oder Kunst eines Manns dienen nicht mehr dazu, seine Übergriffe unter den Teppich zu kehren

Wie passt das zusammen? Der Mann hat eine Broschüre herausgegeben, damit die Opfer von sogenannter häuslicher Gewalt ihre Rechte kennen. Gleichzeitig schüchtert er seine Freundin mit dem Hinweis ein, er sei das Gesetz. Wer weiß – vielleicht versuchte er bei anderen zu bekämpfen, was er bei sich selbst nicht im Griff hatte.

Es hat viele schockiert, dass ein vermeintlicher Kämpfer für Frauenrechte Frauen so terrorisiert hat. FeministInnen versuchen schon ewig darauf aufmerksam zu machen: Die Männer, die gewalttätig werden, das sind nicht die „Anderen“. Das sind Menschen, die sich selbst für progressiv, nett und sogar feministisch halten, denen niemand das zugetraut hätte.

Die #MeToo-Bewegung und ihre Recherchen haben einen Raum geschaffen, in dem Vorwürfe gegen Männer wie Schneiderman öffentlich gemacht werden können und geglaubt werden. Übergriffige werden nicht mehr so leicht geschützt, indem sie oder ihr Umfeld sich auf ihre vorgeblich progressive Politik, künstlerischen Erfolg oder ihren Status als Aushängeschild einer marginalisierten Gruppe berufen.

Kein Nebenwiderspruch mehr

Darüber hinaus ist es #MeToo gelungen, diese Männer zur Verantwortung zu ziehen, ohne dass es einen großen Backlash gegen die Politik gäbe, für die sie stehen. Die Zeiten scheinen endlich vorbei zu sein, in denen der Kampf gegen Sexismus als vermeintlicher Nebenwiderspruch einem anderen gemeinsamen Ziel geopfert wird.

So könnte es gerade ihre Scheinheiligkeit gewesen zu sein, die dazu motiviert hat, Übergriffe zu outen: Wie bei Schneiderman war das offenbar auch der Fall beim gefeierten Autor und Pulitzer-Preisträger Junot Díaz. Dieser hat sich vor Kurzem als Opfer sexualisierter Gewalt in die #MeToo-Debatte eingeschrieben: In einem eindrücklichen Essay im New Yorker berichtet er, wie er als Kind vergewaltigt worden ist und wie das sein Leben zerstört hat. Es ist sehr selten, dass Männer es wagen, das Tabu zu brechen, über die ihnen widerfahrene sexualisierte Gewalt zu sprechen.

Junot Díaz gibt einen intimen Einblick in das, was „toxische Männlichkeit“ genannt wird: niemals die erfahrene Gewalt zuzugeben, sich verletzlich zu zeigen oder gar sich helfen zu lassen – und die Wut gegen sich selbst und andere, vermeintlich Schwächere, zu richten. Über die Verletzungen, die er anderen zugefügt habe – außer seine Freundinnen betrogen zu haben –, bleibt er vage.

Nun haben sich mehrere Schriftstellerinnen mit Vorwürfen gegen Díaz geäußert. Eine schreibt, er habe sie gewaltsam in eine Ecke gedrängt und geküsst, andere berichten von verstörender verbaler Aggression. Anders als bei Schneiderman scheinen die Vorwürfe gegen Díaz eher übergriffiges und sexistisches Arschloch-Verhalten zu sein, nicht unbedingt strafbare Gewalt. Und er geht anders mit ihnen um: Er sei in Therapie und übernehme Verantwortung für seine Vergangenheit. Deshalb habe er von seiner Vergewaltigung gesprochen, jetzt höre er Frauen zu und lerne. Das ist schön und hoffentlich wahr. Besser wäre es gewesen, wenn er seine Übergriffe nicht verschwiegen hätte. Es gibt Spekulationen darüber, ob Díaz mit dem Essay den Vorwürfen zuvorkommen wollte. Was er wirklich bei wem angerichtet hat, ob er es jetzt besser macht und ob er tatsächlich versucht, Dinge wieder gut zu machen – das muss er noch beweisen.

Verantwortung und Mitgefühl

Diese beiden Fälle zeigen, wie vertrackt patriarchale Gewalt auch für Männer ist. Sie können Vorkämpfer gegen Gewalt, können Opfer und Täter in einer Person sein. Es sieht zum Glück so aus, als sei die Debatte in der Lage, die Komplexität auszuhalten: Wir können sowohl Empathie für jemanden wie Díaz spüren und ihn auch zur Verantwortung ziehen. Beides gleichzeitig zu tun, so schreibt Chitra Ramaswamy im Guardian, sei der beste Weg, um aus dem Kreislauf der Gewalt auszubrechen. Ähnliches schreibt die Autorin Aya de Leon auf ihrem Blog: Die männliche Vorherrschaft muss beendet werden, damit auch sexualisierte Gewalt aufhören kann. Um das zu erreichen, müssen sich Männer mit ihrem Mitgefühl verbinden und für den Schaden, den sie angerichtet haben, Verantwortung übernehmen. Wir brauchen dafür „restorative justice“, schreibt sie, Verfahren für wiedergutmachende Gerechtigkeit.

Menschen, die Übergriffe begehen, können sich nicht mehr auf das Schweigen verlassen

Auf dem Weg dorthin zeigt die #MeToo-Debatte vielleicht jetzt schon eine Alternative zum strafrechtlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt auf. Dieser war bisher die Norm und schädigt die Betroffenen oft zusätzlich: Es wird ihnen nicht geglaubt, die Verfahren meist eingestellt, weitere Taten nicht verhindert. Die JournalistInnen hingegen waren in der Lage, mit sorgfältigen Recherchen die Berichte der Betroffenen auf ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Jetzt kämpft und verliert nicht mehr Jede(r) isoliert vor Gericht – wenn überhaupt. Jetzt kämpfen im Zuge der Recherchen mehrere Betroffene gemeinsam und können gleichzeitig unabhängig voneinander die Vorwürfe bekräftigen.

So hat diese Form der Auseinandersetzung mit Übergriffen zu echten Konsequenzen geführt – wenigstens bei etlichen prominenten Männern. Das Ergebnis war, dass die Vorfälle bekannt wurden, die mutmaßlichen Täter mit ihren Jobs auch einen guten Teil ihrer Machtposition verloren haben und so wahrscheinlich weitere Übergriffe verhindert werden können. Menschen, die Übergriffe begehen, können sich nicht mehr auf das Schweigen verlassen. Und das wird hoffentlich nach und nach auch auf den Umgang mit sexualisierter Gewalt bei nichtberühmten Menschen ausstrahlen.

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