Onliner und Amokläufer: Das Netz frisst seine Kinder

Die Netzkinder teilen viele Merkmale mit Amokläufern. Zwischen Selbstbild und der Fremdbeschreibung liegt eine große Differenz. Und viel Spielraum für Missverständnisse.

Zeigen oder nicht zeigen? Oder zeigen, dass nicht gezeigt wird? Bild: YariK / photocase.com

Am 6. Mai 2002 brachte der Spiegel auf seinem Titel eine Collage zu Erfurt, Überschrift: „Das Leben und töten des Robert S.“ Zu sehen waren private Schnappschüsse des Amokläufers, als Baby, im Urlaub, als junger Mann. Es folgte eine Diskussion über die Rolle der Medien, wie sie die USA nach Columbine bereits geführt hatte: wie sehr sich Zeitungen und Fernsehsender zum Komplizen der Attentäter machen, und wie sehr sie durch ihre schlaglichtartige Aufmerksamkeit neue Amokläufe provozieren.

Im März 2009 veröffentlichte der Chefradakteur der Welt am Sonntag, Thomas Schmid, einen Kommentar, in dem er nach Winnenden „Krethi und Plethi“ aus dem Internet verantwortlich machte, den Amokläufer zu glorifizieren und ihm ein Denkmal zu setzen. Gleichzeitig brachte das Schwesterblatt Bild eine Aufnahme des jungen Mannes, auf der ihm ein Kampfanzug angephotoshoppt wurde.

Nach Winnenden entwickelte sich eine sehr differenzierte Debatte über die Rolle der Medien, nachdem die „Sensationskarawane“ von Übertragungswagen in den Ort eingefallen war. Während ein Teil der Kommentatoren weiter auf die Trias der zersetzenden Populärkultur „gewaltverherrlichende Filme, Videospiele, Internet“ verwiesen, thematisierten nachdenklich gewordene Berichterstatter ihre eigene Rolle.

Im November 2011 zeigte das Titelbild des Spiegels Anders Breiviks weichgezeichnetes, in rot gehaltenes Porträt. Vor einigen Tagen beschrieb Ingeborg Harms auf Zeit Online, wie Amokläufer um Bewunderung ringen; am ende heißt es: „Einer wie James Holmes zeigt ihnen den Königsweg ins kollektive Gedächtnis.“ Illustriert ist das Stück mit einem Foto von – James Holmes.

Im letzten Teil stand die These im Raum, dass die Netzkinder (Generation 30-, digitale Profis bzw. Avantgarde) in einer medialen vermittelten Welt leben, den Medien aber immer weniger trauen. Sie sind, wenn man diversen Studien folgt, eher männlich, gebildet und, nunja, jung.

Gerade beim Thema Amoklauf klaffen zwischen ihrer Erfahrungswelt und Selbstwahrnehmung einerseits und medialer Fremddarstellung andererseits riesige Lücken, denn sie teilen sich mit vielen Attentätern nicht nur die soziologischen Rahmendaten, sondern auch gewisse kulturelle Vorlieben; insbesondere die These von den Killerspielen, als aggressionsfördernd angenommene Musik und der (statistisch nicht belegten) Verrohung der Jugend betrifft sie selbst; es ist ihre kulturelle Praxis, die in Frage steht.

Melden, dass es nichts zu vermelden gibt

Aber wie darauf reagieren? Die Debatte über die Gefährlichkeit von Killerspielen beispielsweise fängt immer wieder ganz vorne an; das liegt vor allem auch daran, dass das Internet das Wort News sehr genau nimmt, in jeder Hinsicht. Liveticker, nicht nur über Amokläufe, gehören zu fast jedem Online-Auftritt; selbst wenn es nichts zu vermelden gibt, ist es besser, zu melden, dass es nichts zu vermelden gibt.

In solchen Momenten ist das Internet ist ein Hastplatz: Man tritt auf der Stelle, das aber schnell. Für Analysen und Hintergründe fehlt dann die Zeit: Alles, worauf man sich beziehen kann, sind Klischees und das, was andere aufgeschrieben haben. Die Taktik mag man „Déjà-su“ nennen: Man schreibt auf, was der Leser vermutlich ohnehin schon weiß, nur nicht in diesen Worten.

Nicht nur diese Artikel werden immer schneller geschrieben, insgesamt hat das Internet die Zeitnot für Journalisten verschärft. Das ist weithin bekannt; etwas weniger geläufig ist, dass diese Artikel auch immer schneller gelesen werden. Zwanzig Prozent schneller, sagen diverse Studien, andere sprechen davon, dass am Bildschirm überhaupt nicht mehr gelesen, sondern der Text nur noch grob nach seinem Kern gescannt wird.

Studien, die ein besseres Textverständnis durch Bildschirmlektüre annehmen, existieren nicht. Neuere Untersuchungen gehen davon aus, dass sich das Textverständnis durch die Lektüre an Smartphones nochmal deutlich verschärfen wird.

Es gibt also einerseits die Differenz zwischen Selbstbild und Beschreibung, die dank des Netzes jeder Betroffene kommunizieren kann. Und andererseits wächst der Spielraum für Missverständnisse. Die pathetische Selbstbehauptung der Medien, die Welt zu sein oder auch nur sie im Focus zu haben, unverzichtbarer Spiegel der Zeit usw. wirkt da wie ein kalkuliertes Trugbild. Besonders lustig: Dass die Behauptung der großen Verleger, ritterliche Verfechter und Garanten einer funktionierenden Presse zu sein und deswegen ein Leistungsschutzrecht in Anspruch nehmen zu wollen, in ihren Häusern geradewegs zu miserablem Journalismus führt.

Ein Hort der Spitzzüngigkeit

Die Distanzierung führt geradewegs zu einer Ablehnung jedes Pathos' und hin zu einer bitteren Leichtigkeit. „Meine Nische ist die Ironische“, sagte einst Sascha Lobo und hat damit das Grundgefühl von Twitter treffend zusammengefasst.

Anders als in Frankreich oder Amerika, wo die reichweitenstärksten Tweets inzwischen von Popstars, Sportlern, anderen Teenager-Idolen oder schlicht Kalenderspruchaggregatoren produziert werden, ist das deutsche Twitter ein Hort der Spitzzüngigkeit und der avantgardistischen Verweigerungshaltung gegenüber dem Mainstream: das deutsche Twitter besteht darauf, eigene Helden hervorzubringen, und wehrt sich gegen ignorante Eindringlinge. Hans Sarpei statt Oli Kahn.

Seit Beginn der Blogs wartet man darauf, dass dieses System der Berichterstattung, in dem man sich und die Welt nicht wiedererkennt, auseinanderfällt. Bisher vergebens, aber man glaubt den Fortschritt auf seiner Seite zu wissen. Kann nicht mehr lange dauern.

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